Die Feier am Sonntag
Die Sommersonne lag den ganzen
Sonntag über unserer Stadt. Selbst mit dem Kirchplatz an seiner Nordseite
meinte sie es am Nachmittage noch gut. In gleißendes Licht getaucht
lag die Front der alten Schule da. Die Schatten der blühenden Linden
umgaukelten ein seltenes Bild. Ein Rednerpult war
unter der seit langem dort befindlichen Bronzegedenktafel, darauf der Magister
Carl Gottlieb Hering und sein Sohn, der Komponist Karl Eduard Hering, für
die Nachwelt im Bilde festgehalten sind, aufgestellt und festlich mit Lorbeerbäumen
und Fahnentüchern in den Farben des Deutschen Reiches, des Landes
Sachsen und der Stadt Oschatz geschmückt worden. Unter der mit einer
Blumenranke umzogenen Erinnerungstafel Erinnerungstafel sollte eine nun
neuangebrachte Ehrentafel für den ebenfalls weltberühmt
gewordenen Sohn des Magisters Constantin Hering, der 1800 hier geboren
wurde, dem Schutze der Stadt Oschatz übergeben werden. Sie war noch
mit einem Fahnentuch verhängt. In feierlicher Weise sollte die Enthüllung
vor sich gehen. Es hatte sich denn nachmittags 3 Uhr ein kleiner Kreis
von besonders Eingeladenen, aber auch eine stattliche Zahl von Einwohnern
unserer Stadt auf dem sonst so ruhigen Kirchplatz eingefunden, um Zeuge
zu sein, dieses schlichten und doch denkwürdigen Ereignisses. Auf Stuhlreihen
vor dem Rednerpult nahmen die erschienenen Mitglieder der Familie Hering
Platz, sowie ein engerer Kreis der geladenen Gäste. Die Feier begann
mit einem von K.E.Hering komponierten „Weihelied“, das Mitglieder des Gesangsvereins
„Liederkranz“ unter Herrn Obl. Rosts Leitung von den Stufen des Nordeingangs
der Aegidienkirche aus stimmungsvoll sangen. Danach betrat Herr Dr. med.
Taube-Weißenfels das Rednerpult, um frei und vernehmlich die Festansorache
zu halten. Zunächst
erbot er einen Gruß an die Stadt Oschatz, in deren Mauern die Wiege
des zu Feiernden stand, im Namen der erschienen Mitglieder der Familie
Hering, die zum Teil vom übern Meere hergekommen seinen, und im Namen
der Freunde des Werkes Dr. Constantin Herings. Wie über
jedes Menschen Leben sein Stern stehe, ob Gutes oder Böses verheißend,
wie ihm ein Charakter schicksalbestimmend mitgegeben werde, so war sich
Constantin Hering vergönnt, bewußt zu leben nach den Linien
seines Wesens und seiner Vorausbestimmung. Sein Lebenslauf und seine Bedeutung
für Zeit und Nachwelt sind an anderer Stelle diese Blattes eingehend
durch die Feder des Herrn Obl. G.Vödisch gewürdigt worden. Der
Redner verstand es, anhand zahlreicher Einzelbelege und geistvoller Betrachtungen,
das Bild, das wir uns von dem Gefeierten zu machen haben, lebendig, farbenfroh
und gedankenreich auszugestalten. Schon die Äußerlichkeiten
und Zufälligkeiten brachten eine schicksalbindende Beziehung. So den
Geburtstag schon des Gefeierten, der auf einen Sonntag fiel, den 1. Januar
des Jahres 1800, der las Jahrhundertwende auch eine Kulturwende bedeutete,
so den Namen des Gefeierten, der ihn als standhaften Feldherr im Kampfe
des Lichte vorausbestimmte und ihn eingliederte in das H-Gestirn der Homöopathie:
Hufeland, Hahnemann und Hering. So wie Jesus
einen Propheten in Johannes dem Täufer und einen Apostel in Paulus
gehabt habe, sei Hufeland, der Leibarzt des Königs Friedrich Wilhelm
III. und der Königin Luise, Vorläufer und Gönner Hahnemanns
und Herings der Pionier der Praxis und der Träger der Idee in das
ferne Amerika gewesen. Das gerade Wesen und die Wahrheitsliebe, die Constantin
Hering bis in sein hohes Alter begleiteten, kennzeichnete der Redner trefflich
an einigen Episoden. Als Knabe habe 1813 ein französischer Soldat
auf dem Durchzug ihm um ein Stück Brot angesprochen, als Hering ihm
Schwarzbrot brachte und der Soldat es höhnisch zurückwies, soll
er gerufen haben: Was ihr wollt das Brot nicht essen, das meine Mutter
gebacken hat? das strafe Euch Gott! – Derselbe Soldat sei beim Rückzug
aus Rußland abermals durch Oschatz gekommen und habe wiederum den
kleinen Constantin um Brot, und zwar um schwarzes, gebeten, da sei er hingegangen
und habe dem französischem Soldaten in seinem jetzigen Zustand weißes
Brot besorgt. So habe er auch später
durch seine Charakterfestigkeit gepaart mit Edelmut viele, auch einstige
Gegner für seine Lehre gewonnen, u.a. den Verleger Baumgärtner,
für den er anfangs eine Schmähschrift gegen Hahnmann ausarbeiten
sollte, so sein Universitätsrektor, der ihn bei einer Stipendienzuteilung
ermahnte, von der Ketzerlehre Hahnemanns abzulassen, der junge Hering aber
auf Stipendium verzichtete und lieber Hunger leiden als gegen das eigene
Bekenntnis handeln zu müssen. Bei Herrnhuter
Missionaren ließ er sich als Arzt nieder. Einer menschenfreundlichen
Hilfe an einem Kranken, den er bei einer Reise am Wege fand, verdankt er
seine erste Anstellung beim Statthalter von Surinam, dem der Geheilte ihn
empfohlen hatte. |
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Trotz
harter Schicksalsschläge – seine beiden ersten Frauen starben bald,
einer seiner Beamten am ersten amerikanischen homöopathischen Institut
in Allentown unterschlägt ihm bedeutende Summen, so daß die
Anstalt fast eingeht, weil ihm niemand hilft, auch Hahnemann, der inzwischen
in Paris ein reicher Mann geworden ist, trotz heftiger Angriffe seiner
wissenschaftlichen Gegner, ohne staatliche Unterstützung, setzte er
sein Werk durch. In Philadelphia und Chicago tragen die größten
homöopathischen Krankenhäuser mit mehr als 2000 Betten seinen
Namen, ihn zur Ehre. Gegen 150 andere homöopathische Heilanstalten,
auch für Irre- und Lepra-Kranke, hat er zum Teil selbst mit gegründet.
50 Professoren vertreten an amerikanischen Hochschulen seine Lehre. Auch
an vielen Zügen aus dem Familienleben gestaltet der Redner das Bild
des Gefeierten zu einem originellen, charaktervollen, nachahmenswürdigen
und edlen. Mit den Worten: „Dankbarkeit sei die Tugend der Nachwelt“ schloß
der Redner. Nach der Festansprache,
die tiefen Eindruck bei aller Zuhörern hinterließ, nahm Herr
Professor Hermann S. Hering, Boston, der jüngste Sohn des Gefeierten
das Wort. Er begrüßte zunächst die Stadt Oschatz und ihre
erschienenen Vertreter, die Anhänger der Homöopathie, die Presse,
die Freunde und Bekannten. Gern sei er, wie alle Erschienenen, der Einladung
gefolgt, wisse sie zu würdigen und dankte herzlich dafür. Er
verlaß sodann die lange Liste der Familienmitglieder, in deren Namen
er zu grüßen und zu danken habe. Es war eine selten reiche Zusammenstellung,
die bezeugte, wie die Kraft und der Wille des Vaters nachwirkte im Aufwärts-
und Vorwärtsstreben der Kinder und Kindeskinder zu höchsten Stellen
im Staats- und Wirtschaftsleben, die aber auch jederzeit dankfertig dessen
vorbildliche Wesensart zu schätzen wissen und ihr nacheiferten. Möchte
aber vor allem der Geist dienender Menschenliebe, der in Constantin Hering
so überaus stark war, auch in unseren Tagen an Kraft und Klarheit
gewinnen. Mit bestem Wunsche für das Wohl und Gedeihen der Stadt Oschatz
übergab Herr Professor Hermann S. Hering sodann die Tafel der Stadt.
Seine Hand zog die Hülle von dem Bilde, das sich in seiner künstlerischen
Schönheit dem Auge entfaltete. Das von langem Haar und Bart umwallte
Antlitz eines Gelehrten, er seine Brille nach damaliger Sitte trägt,
aus dessen Augen aber vornehmlich die Güte und Menschenfreundlichkeit,
die „Macht des Milden“ zu uns spricht. Lorbeerumrankt sein Bild. Darunter
stehen die im Lebensabriß von G.Bönisch eingangs angeführten
Worte. Die Bronzetafel
wurde nach dem Entwurf von Adolf Heinrich, Riesa im Lauchhammerwerk gegossen.
Sie paßt gut zu der bereits am Hause befindlichen Tafel des Vaters
und des Bruders. Ihr äußeres Bild allein wird so manches Wanderers
Schritt hemmen und zur Betrachtung auffordern – wievielmehr wird sie uns
Oschatzern sein können, die wir ihren Sinn und ihre tiefe Bedeutung
kennen. Herr Erster
Bürgermeister Dr. Sieblist übernahm im Anschluß an die
Worte des Prof. H.S.Hering die Ehrentafel ungefähr mit folgenden Worten: Voll Stolzes
stehen wir Oschatzer heute an dieser Stelle, am Denkmal eines unserer größten
Söhne, der den Namen unserer Stadt hinausgetragen hat in Weltweiten
und der dennoch in der Ferne ein recht deutscher Mann geblieben sei, ein
echter Oschatzer. Wie er, haben es auch seine Nachkommen gehalten. Wir
sind stolz, diese heute bei uns begrüßen zu können. Wir
fühlen uns mit der Familie Hering eng verbunden, deren großen
Söhne diese Wand zieren. Jahrhundertelang sind die Herings in Oschatz
bedeutende Männer gewesen, Generationen hindurch haben sie unserer
Stadt Dienste geleistet. Und heute kommen ihre Nachfahren und bieten uns
im Gedenken die Hand. Gerade jetzt, nach Jahren schwersten Zwistes und
schweren Kampfes zwischen den zwei Völkern. Wir fassen diese Hand
mit besonderer Freude und nehmen sie als Zeichen der Weltversöhnung.
Wir wollen die Tafel in Ehren halten: der Mann, den sie darstelle, soll
uns immerdar ein Vorbild sein. Eure Freundschaft soll uns heilig sein! Ich übernehme die Tafel und rufe: Auf Wiedersehen in Oschatz! Die Liederkränzler
sangen als Abschluß der Feier das von K.E.Hering komponierte Lied
„Freie Kunst“, dessen Schönheit den Mitgliedern der Familie Hering
sowohl, wie auch den übrigen Zuhörern nahe gehen mußte.
– Herr Photograph Koczyk hielt die feierliche Handlung im photographischen
Bilde fest. Nach der Feier kam ein enger Kreis der geladenen Gäste
programmgemäß bei Zierolds noch zu Kaffee und Kuchen zusammen. Die beiden
Brüder Hering, die aus Amerika hergeeilt waren, um den Tag und die
Stunde mit zu begehen, werden von hier aus ihre Reise durch Deutschland
zu weiteren Angehörigen der Familie Hering fortsetzen, den Spuren
Ihres Vaters folgend, dem es auch höchster und heiligster Eindruck
war, sein Vaterland wiederzusehen, den aber auch Tatendrang immer wieder
hinauszog in das Land der Freiheit als Pionier seiner Sache, der Homöopathie. |