„Aber blamier mich nicht, Junge!“
Es hat lange gedauert, bis das schon oft verabredete Plauderstündchen stattfinden konnte. Doch
endlich kam auch der von ihm heißersehnte Tag, an dem er nach mehrmonatigem Krankenhausaufenthalte wieder heim konnte, heim zu seiner geliebten Arbeit.
Und dann erzählte mir Herr Ing. Curt Lehmann aus seinem mehr als 84jährigem Leben. Ausgestattet mit einem erstaunlich gutem Gedächtnis, tat er
das so lebendig, interessant und gewürzt mit allerlei Episoden, daß die Uhr, die in seinem Leben eine so wichtige Rolle spielte, aus dem geplanten
Plauderstündchen mehr als vier werden ließ. Ein Lebensbericht rollte ab mit Höhen und Tiefen, mit stolzen Erfolgen am Erfinden,
die aber Zeit- und andere Umstände, Krieg und Inflation, ja sogar Gesetzesparagraphen nur zu oft nicht den erhofften wohlverdienten Lohn
finden ließen.
Der in Brandis geborene Großvater betrieb das längst ausgestorbene ehrbare Sporerhandwerk
und dazu eine kleine Schankwirtschaft in der Brückengasse in Grimma. Der Vater (geb. 1850) lernte bei Tritzschler in der Muldenstadt als Uhrmacher.
Nach der Sitte der Zeit ging er auf die Walze, vervollkommnete und erweiterte seine Kenntnisse und machte sich 1876 in Oschatz am Altmarkte selbständig
in dem Hause, das bei der Erweiterung des Großeschen Eckgrundstücks mit aufging. Hier wurde Kurt Lehmann am 13.5.1880 als ältester Sohn
geboren. Schon im vorschulpflichtigen Alter zum Basteln und tüfteln veranlagt, hatte er Interesse an Uhren und Maschinen und träumte davon,
einst selbst Maschinen zu konstruieren. Aber auch die mechanischen Orgeln, von denen er auf dem Jahrmarkte nicht wegzubringen war, hatten es ihm angetan.
Es blieb jedoch zunächst nur beim Träumen, denn als sich noch zwölf Geschwister einstellten, wurde der Älteste, der schon aus eigenem Interesse dem Vater fleißig
mit zur Hand ging, kurzum zum väterlichen Beruf bestimmt. Eigentlich hatte er schon mit der Schulentlassung seine Lehrzeit als Uhrmacher hinter
sich, der aber bis 1897 noch die „amtliche“ folgte, verbunden mit Fortbildungsschule und Sonntagsunterricht im Zeichnen. In diese Zeit fällt seine erste
Erfindung. Mit dem zwei Jahre älteren, ebenfalls in Oschatz geborenen Freunde Gustav Schönberg, der bei Pötzsch in der Strehlaer Straße
Zeugschmied lernte, aber mehr dem Uhrmacherhandwerk zugetan war, konstruierte und erbaute er eine elektrische Hauptuhr, damals natürlich noch mit
Batteriebetrieb. Schönberg entwickelte diese bis zur höchsten Vollendung, gründete später die in der ganzen Welt bekannte Uhrengesellschaft
„Normalzeit“ in Frankfurt am Main und bekleidete dort den Posten als Direktor.
Etwa ein halbes Jahr vor Beendigung seiner Lehrzeit erschien in der Uhrmacherzeitung ein Inserat des Hofuhrmachers Pleißner in Dresden:
„Wer kann eine sehr defekte englische Glockenspieluhr wieder instand setzen?“ Curt L. bat seinen Vater,der nebenbei auch noch mit Antiquitäten aller Art,
insbesondere mit Spieluhren handelte, sich doch zu melden. Es war der einzige Meldung! Als die Kisten mit der Uhr aus Amsterdam ankamen - sie war für den königlichen
Hof bestimmt - war er beim Betrachten dieses Uhrenwracks mit den fehlenden Teilchen sichtlich erschrocken. ja beinahe böse, und bestimmte nun
seinen Sohn, die eingebrockte Suppe gefälligst auch auszulöffeln. „Aber“, sagte er, „blamier mich nicht, Junge!“ Diese Uhr hat ihm manche
schlaflose Nacht bereitet. Es galt, das astronomische Uhrwerk teilweise zu ersetzen, Zahnräder neu zu arbeiten und vor allem, die fehlenden
Glocken zu beschaffen. Aus dem Takte der Hammerschläge erkannte er schließlich die Töne der Glocken. Es war die Choralmelodie:
„Nun danket alle Gott!“. Nach etwa vierteljähriger Arbeit, neben der täglich anfallenden, war die Uhr schließlich fertig – und Vater
Lehmann strahlte! Die Uhr wurde nach Dresden geschickt. Ihr Erbauer wurde zum Aufbau der Uhr in die Residenz beordert.
Hier bei Pleißner, wurde er dahingegen beschieden, doch den Mann herzuschicken, der die Uhr wieder ingang gesetzt hatte. Der würdige
Herr Hofuhrmacher war erstaunt, als dieser langaufgeschossene „spinrige“ junge Mann sich selbst als der „Konstrukteur“ vorstellte. Der schickte
ihn erst mal in ein Gasthaus – in die Schlossstraße zu einem kräftigen Mittagessen. Am Nachmittage wurde dann die Uhr zusammengesetzt.
Dabei mussten die weit älteren Gehilfen dem 17jährigen Handlangerdienste erweisen. Die Uhr ging! Der Chef war darüber so
erfreut, dass er dem jungen Oschatzer seine nur aus Raritäten bestehende Uhrensammlung zeigte – einige Stücke davon sind heute noch
im mathematisch-physikalischen Salon des Zwingers zu sehen –, ihm zum Abschied noch ein goldenes 20-Mark-Stück in die Hand drückte und ihn aufforderte,
nach Beendigung der Lehrzeit in seine Dienste zu treten. Aber Curt Lehmann wollte keinesfalls Uhrmacher bleiben. Er folgte dem verlockenden Rufe seines Freundes
Schönberg nach Frankfurt a.M.. zur Firma August Schwarz, einer Fabrik für Feinmechanik und Elektrotechnik. Immer bestrebt, sich weiterzubilden,
erfolgten einige selbständige Wechsel in ähnlich geartete Betriebe. In einem amerikanischen Unternehmen (Fabrikation mechanischer Apparate)
gelangen ihm eine Anzahl konstruktive Verbesserungen, woraufhin er im Konstruktionsbüro beschäftigt wurde. Kaum 20jährig wurde er mit noch einem Herrn
zur Errichtung einer Spezialabteilung dieser Firma im Schwarzwald herangezogen.
Eine schwere Erkrankung seines Vaters rief ihn 1900 zur Fortführung des väterlichen Geschäfts im erlernten Berufe in seine Heimatstadt zurück.
Unter anderem konstruierte und erbaute er hier eine Zimmeruhr mit mechanischem Zitherspielwerk, auf
die er sein erstes Patent erlangte. Da er in Oschatz nun seine Frau kennenlernte, war es begreiflich, daß er sich hier selbständig
machte in der sehr gefragten Branche der Feinmechanik und Elektrotechnik. Mit einem Gesellen und zwei Lehrlingen fand er in der Reparatur von Gasmotoren,
Anfertigung von elektrischen Meßinstrumenten (Voltmeter), Elektrifizierung von Mühlenwerken und einschlägiger Arbeit ein reichliches Arbeitsfeld
vor. Damals war weit mehr als heute das Billardspiel große Mode, und in allen größeren Gasthöfen konnte man seine Partie
Carambolage oder „Kugel“ spielen. Er selbst war auch ein begeisterter Freund des Spieles auf der „grünen Wiese“. Oft gab es dabei mit dem Wirte
differenzen, weil bei der Bezahlung gern zu Ungunsten des Wirtes wegen der Spielzeit gemogelt wurde. Das veranlaßte ihn zur Konstruktion
des mittels eines Uhrwerkes selbstkassierenden Billards, worauf er mehrere Patente erhielt. Die Billardfabrik Pfefferkorn & Co. in Merseburg interessierte
sich brennend für diese Neuigkeit und veranlaßte seine Übersiedlung dorthin zur Leitung dieser Fabrik. Einige Tausend Billards mit dieser Neueinrichtung
kamen in den Handel. Bei einem ähnlichen Unternehmen (Billardfabrik Kindling) in Magdeburg war er in leitender Stellung bis 1910 tätig.
Auch hier war man sehr erstaunt über den jungen Mann, hatte man sich doch den Erfinder als würdigen Mann mit Vollbart und angehendem Bäuchlein
vorgestellt. Hier konstruierte er u.a. auch einen ausziehbaren Tisch, bei dem sich automatisch Füße zum stützen der Platten unterstellten
und mittels einer Hebelvorrichtung Rollen heraustraten, die den Tisch leicht beweglich machten.Es war damals die Zeit, wo die ersten „fliegenden Menschen“
die Welt in Erstaunen versetzten. So war es kein Wunder, daß der Flugzeugbau auch Curt Lehmann in seinen Bann zog. In seiner Freizeit baute
er einen Sporteinsitzer mit selbstkonstruiertem Motor. Auf dem Krakauer Anger bei Magdeburg gelang auch der erste Flug von etwa 3,5 km Länge
in Haushöhe.
Zwar brachte ein widriger Seitenwind das leichtgebaute Flugzeug etwas aus dem Gleichgewicht, aber
die Landung erfolgte ohne Bruch. Sonntagsschauflüge, u.a. in Hettstedt, fanden interessierte Besucher, was ihn zum Bau weiterer Flugzeuge ermunterte.
Da brach der erste Weltkrieg aus. Das Privatfliegen wurde verboten, die Leute eingezogen, und all seine Pionierarbeit war wieder einmal umsonst
gewesen! Er kam 1915 zur Fliegerersatzabteilung nach Darmstadt und wurde aufgrund seiner Kenntnisse namentlich zum Motorenbau als Lehrer zur Ausbildung herangezogen.
Später wurde er zur Kampffliegerabteilung nach Mannheim-Käfertal versetzt. Bei Übungsflügen war oft festzustellen, daß die
Einsitzer in Brand gerieten und abstürzten. Den Ursachen nachgehend, konstruierte er in seiner Freizeit mit einem Mechaniker eine Vorrichtung.
Durch Anbringen einer Art Feuerlöschers genügte der Druck auf einen Knopf, diesen in
Tätigkeit zu versetzen und einen Vergaserbrand im Keime zu ersticken. Diese
Erfindung hatte ihm bald vom Kommandanten einige Tage „Lade“ eingebracht, da er
sich ohne Genehmigung „am Staats-eigentum vergangen habe“. |
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Bald aber erkannte man diese Verbesserung am Umlaufmotor, was eine Versetzung als Abnahmeingenieur
zur Motorenfabrik Oberursel zur Folge hatte. Hier gelang es ihm u.a. auch, den Motor des ersten Rückenfliegers der Welt, des Franzosen Pégoud,
wieder funktionsfähig zu machen. Rüsselsheim (Motorenschule) und wiederum Fliegerschule Darmstadt waren seine letzten Stationen im Kriegsjahr
1918. Der Friedensvertrag verbot jede weiter fliegerische Betätigung. Auch die Fabrikation von Spielautomaten verbot sich wegen des fehlenden
Hartgeldes von selbst. So galt es für ihn, sich nach einer anderen Bestätigung umzusehen. Auf der Rückfahrt nach
Oschatz begriffen, traf er im Zuge zufällig seinen in Erfurt wohnenden Bruder, mit dem er dort eine mechanische Werkstatt eröffnete. Über
Mangel an Arbeit brauchten sich beide nicht zu beklagen. Schreib-, Rechen-, Nähmaschinen, Kontrollkassen,
Fotoapparate, Uhren usw. wurden wieder
in Gang gebracht. In der Folgezeit spezialisierten sie sich ausschließlich auf Schreibmaschinen, kauften alte auf und überholten sie zum Weiterverkauf.
Da der Ankauf alter Maschinen mit der Zeit nachließ, konstruierte C. Lehmann nach ganz neuen Gesichtspunkten selbst eine Schreibmaschine,
die „Lehmann“, die im In- und Auslande patentiert wurde. Ein späteres Modell, die „Culema“, war allen anderen in jeder Hinsicht überlegen
und zudem die einzige durch Panzer staubgeschützte Schreibmaschine. Sie fand auf der Leipziger Messe guten Absatz. Dies führte zur Gründung
der Schreibmaschinenfabrik Gebrüder Lehmann (Komm.-Ges.) in Erfurt. Ein Erfurter Kommerzienrat fungierte als Finanzmann. Curt Lehmann hatte
die technische, sein Bruder Ernst die kaufmännische Leitung. Eine finanzielle Krise bedingte eine mehrmonatliche Stillegung, während
der Curt Lehmann als Konstrukteur bei der Frankfurter Automobilfabrik „Koco-Werke“ arbeitete. Dann erfolgte die Gründung
einer neuen Schreibmaschinenfabrik, für deren Fabrikation er verschiedene mechanische Werkmaschinen konstruierte.
Die Belegschaft betrug etwa 250 Arbeiter und Angestellte. Persönliche Gründe veranlaßten ihn aber, 1924 aus diesem Unternehmen freiwillig
auszuscheiden. Unermüdlich auf dem Gebiete des Schreibmaschinenbaues weiterarbeitend., brachte er dann als
Neuheit die Marke „Universal“ mit mehrfach auswechselbaren Schriftsatz heraus, die die Gründung der Schreibmaschinenfabrik Curt Lehmann als
Unterabteilung des Großunternehmens Albert Rehfeld, Dresden zur Folge hatte. Jedoch die immer schärfer sich geltend machende Wirtschaftskrise
bedingte die Einstellung der weiteren Fabrikation und den Verlust des größten Teils des von ihm investierten Vermögens. Eine erneute schwere Erkrankung
des Vaters führte ihn zur Weiterführung des väterlichen Geschäfts nach Oschatz zurück, das er nach dessen Tode 1928 selbst
übernahm. Infolge Erbstreitigkeiten wurde das kleine väterliche Haus in der Sporerstraße verkauft und verschwand beim Erweiterungsbau
des Bonitzschen Geschäftshauses. Da sich ein geeignetes Geschäftslokal in guter Lage nicht finden ließ, gab er 1932 das Ladengeschäft
ganz auf. Der Bau einer neuen Turmuhr für die historische Klosterkirche gab ihm den Impuls für sein
künftiges Schaffen. Das 1787 gebaute Werk war mit den Jahren altersschwach geworden und bedurfte dringend der Erneuerung. Und ein knappes Vierteljahr
brauchte er zu einer gänzlich neuartigen Konstruktion bis zur Ausführung. In diesem Achttagewerk laufen sämtliche Wellen auf Kugellagern, wobei
die Ölung des Gangrades automatisch erfolgt. Das Werk ist ohne auch nur eine Störung bis heute gelaufen, nur das Öl bedurfte 1945
der Erneuerung. 1960/61 wurde durch Herrn Lehmann, der wie sein Vater nun auch den Titel „Ratsuhrmacher“ erhielt, auch die Rathausuhr für
elektrisch-automatischen Aufzug umgebaut. Im Stillen hatte ihn schon längst ein neues Problem beschäftigt, das auch im Jahre 1935
sichtbare Gestalt annahm: es war der Bau eines steuer- und führerscheinfreien Dreirades, das sich speziell als Lieferwagen eignete und in der Weiterkonstruktion
in
Stromlinienformat als Personenwagen - zur Ablösung des Motorrades mit Beiwagen - Gestalt
erhalten sollte. Gute Abschlüsse auf der Leipziger Messe lagen bereits vor. Aber mitten in der Einrichtung der Fabrikation war es diesmal eine
gesetzliche Verordnung, die ihn um die Früchte seiner Erfindung brachte. Diese besagte, daß auch Kleinstwagen versteuert und nur mit Führerschein
gesteuert werden mußten. Wieder einmal mehr war es aus mit dem durchaus zukunftsträchtigen Geschäft! So ging er wieder zurück
zum Bau bzw. Umbau von Turm- und Hofuhren, deren präzise Arbeit ihn weit über den engen heimatlichen Kreis bekannt und gesucht machten.
Bei der Errichtung des Flugplatzes in Oschatz (1936), besonders bei der Einrichtung der Werft,
fand er später vielseitige und interessante Arbeit vor. Als Angestellter war er hier als Leiter des technischen Büros und Konstrukteur bis zum Mai 1942 tätig.
Eine große Anzahl Erfindungen kommen hier auf sein Konto, bei dem zivilverpflichteten Lehmann viel Anerkennung und Lob einbrachten, ohne
sich leider in klingende Münze umzuwandeln. So konstruierte er u.a. einen Spezialwagen zur Startbereitung aller Flugzeugtypen, eine Aufbockvorrichtung
für die Ju52, eine Maschine zum Reinigen der Motorkolben, eine Einschleifvorrichtung für Kolbenringe, allerlei Messinstrumente und eine Zündkerzenreinigungsmaschine,
die auch für unsere Autoreparaturwerkstätten eine große Zukunft hat und von ihm zur Patentierung angemeldet wurde. Als ganz bedeutend
erwies sich eine Vorrichtung für den Segelflug. Nach dem Ausklinken des Zugseiles durch den Segelflieger rollt sich dieses in 45 Sekunden automatisch
in die Motormaschine ein. Falls die Ausklinkung versagte, wurde um Unfälle beim Landen zu vermeiden, das Seil automatisch zerschnitten. Namentlich
an dem ersten Vorhaben hatten sich schon viele versucht, die Lösung aber blieb Curt Lehmann vorbehalten! Nach dem Krieg wurde er
von den sowjetischen Besatzungstruppen nahezu Tag und Nacht mit der Reparatur von Uhren, Schreib- und Rechenmaschinen beansprucht. In der Folgezeit gelang
ihm auch eine patentierte Erfindung, die sich in den schlimmen Jahren nach Kriegsende als recht gefragt erwies: mittels eines Gangreglers konnten
alte Hausregulatoren zu modischen Tischuhren umgebaut werden. Eines seiner letzten Werke war eine vollautomatische Kirchturmuhr mit Zifferblättern
von 1,80m Durchmesser, die als erste dieser Art in Schwichtenberg im Kreise Neubrandenburg von ihm selbst montiert wurde. Im Auftrage des Ministeriums
für Handel und Versorgung erfolgte die Konstruktion eines Metronoms, bei dem durch Druck auf Knöpfe die gewünschte Taktart ein- oder
umgeschaltet werden kann. Hierfür, für die Vorrichtung einer blitzschnellen Reinigung von Zündkerzen und für einen Bohrkopf
mit mehreren während des Laufens eingeschalteten Bohrern liegen die Patentgenehmigungen bereits vor. Dies alles und noch weit
mehr erzählte mir Herr Lehmann nicht nur, sondern bewies es auch durch Vorlage von Zeichnungen, Fotos, Abbildungen in der entsprechenden Literatur,
von Modellen und Urkunden. Nimmt man Einsicht in seine Zeugnisse, so spricht man von seiner Tätigkeit nahezu nur in Superlativen. Unser Staat würdigte
seinen auf tiefster Gründlichkeit basierenden Erfindergeist mit Diplomauszeichnungen und Geldprämien. Viele große Museen
haben seine Hilfe bei der Anfertigung und Reparatur von Automatischen Uhrwerken in Anspruch genommen und tun es auch noch. Ob es gilt, das winzige Spielwerk
einer Schnupftabakdose von kaum Zigarettenschachtelgröße mit einem silbrigen Klange wieder zum Tönen zu bringen oder eine über
150 Jahre alte badische Flötenuhr, die jahrzehntelang verstaubt auf dem Boden ein Dornröschendasein fristete, in mühseliger Kleinarbeit
so zu komplettieren, daß die drei auswechselbaren Walzen wieder 24 Tänze und Märsche spielen, die einst unsere Vorfahren erfreuten,
mit seiner Gründlichkeit und seinen geschickten Händen bringt er fertig, was ihm in der ganzen DDR wohl kaum ein zweiter nachmacht. Seine
so vielseitige, nahezu einmalige Veranlagung hat sich erfreulicherweise auch auf seine beiden Söhne vererbt. Leider wurde der ältere
- er stand vor der Ernennung zum Direktor der Adlerwerke in Frankfurt a.M.. - vom Tode weggerafft, der andere
Arbeit z.Z. als Technologe im VEB Waagenfabrik
Oschatz. Mit über 84 Jahren, in letzter Zeit wiederholt zu mehrmonatlichem Krankenhausaufenthalt gezwungen,
ist er voll von Plänen, die noch der Ausreifung harren. Die „Unruhe“, die man das Herz der Uhr nennt, war auch im landläufigen Sinne die
ständige Begleiterin in seinen langen, an Erfolgen, aber auch an Enttäuschungen so reichen Leben. Aber es war eine schöpferische Unruhe, die auch
dem alten Meister noch heute eigen ist. Was könnten wir ihm darum Besseres wünschen, als eine sich ständig festigende Gesundheit,
damit seinem Schöpfergeist noch viele Erfindungen entspringen zum Wohle seiner Mitmenschen, aber last not least, auch zu eigenem Nutz und
Frommen für seinen gesicherten, sorgenfreien Lebensabend.
Walther Käseberg
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Es sind nun schon bald drei Jahre
her, dass der ehemalige Leiter des Oschatzer Heimatmuseums dank
persönlicher Beziehungen von den Geschwistern Forcker, Oschatz eine
Flötenspieluhr für das Museum als Geschenk erhielt. Lange Jahrzehnte
hatte sie auf dem geräumigen Boden der ehemaligen Stadtbrauerei einen
wahren Dornröschenschlaf gehalten. Die Geschwister Forcker benutzten das
Gehäuse wie das siebente Geißlein im Märchen als wohlgetarntes Versteck
beim kindlichen Spiel mit ihren Schulkameraden. Da deren Großvater
Mechanikus in Staucha und dessen Vater gar Orgelbauer in Schmölln war,
bestand in der Familie die Meinung, dass dieser als Erbauer dieses alten
Uhrwerkes galt, das natürlich schon längst weder schlug noch spielte.
Herr Curt Lehmann (rechts) mit der
reparierten Flötenuhr. Foto: Albrecht
Wer anderes weit und breit als unser alter Meister Curt Lehmann,
Oschatz, wäre bereit und imstande gewesen, die Zerstörte wieder zum
Gehen zu bringen, hatte er doch in ähnlichen Fällen als Spezialist seine
Meisterschaft wiederholt unter Beweis gestellt. Eine dringende andere
ähnliche Arbeit (Reparatur einer englischen Flötenspieluhr für das
Heimatmuseum in Güstrow) hielt ihn zunächst ab, bis er sie dann doch
unter seine findigen und geschickten Hände nahm. Sehr bald stellte sich
heraus, dass der Mechanikus oder Orgelbauer Forcker allenfalls das
Gehäuse der Uhr erneuert hatte. Das eigentliche Werk aber, so war an der
Windlade deutlich zu lesen, stammte aus Simonswald im Schwarzwald. Grund
genug für mich, einmal dorthin zu schreiben. Ein Lob der Post, die mein
Schreiben an die richtige Adresse weiterleitete, in das nicht weit
entfernt liegende Waldkirch im Breisgau! Ein Nachkomme, der Orgelbauer
Otto Bruder, Waldkirch, zeigte sich auf meine Anfrage äußerst
interessiert und schrieb: „Der von Ihnen erwähnte Ignaz Bruder ist mein
Urgroßvater und lebt in unserer Familie als der „Uhrennazi“ weiter. Er
wurde 1780 in Harmersbach geboren, arbeitete als Maurer in Frankreich,
hat den Bau von Spieluhren in Mirécourt (Vogesen) beobachtet und dann
autodidaktisch etwa seit 1803 selbst ausgeübt.. Er ließ sich später in
Simonswald nieder, wo er mit der Herstellung von Musikwerken und
Spieluhren begann. Anfang der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts
siedelte er nach Waldkirch über., wo er 1845 starb. Seine Söhne
gründeten hier die Firma Gebrüder Bruder, die durch den Bau von
Karussellorgeln und Orchestrions Weltruf erlangte, aber infolge des
Aufkommens der Schallplattenübertragungen einging.“ Der Schreiber des
Briefes ist jetzt noch im artverwandten Beruf als Orgelbauer tätig. Was
ergab nun die Diagnose des Uhrendoktors C. Lehmann? „Todkrank,
altersschwach, wurmstichig, keine Gewichte, kein Pendel, keine Zeiger,
keine Hebel, undichte Ventile...“ Nur ein Wunderdoktor konnte mit
unendlicher Geduld und mühevoller Kleinarbeit dem morschen Wrack wieder
Leben einhauchen. Aber er gab nicht auf und ging mit der ihm eigenen
Beharrlichkeit an die nahezu aussichtslose Arbeit heran, bis ihn, den
83jähriigen Meister, ein beinahe 25monatiger Krankenhausaufenthalt zum Feiern
zwang. Wie oft mögen wohl in dieser langen Zeit seine Gedanken bei dieser Uhr
gewesen sein? Und wie groß war die Freude, endlich wieder heimkehren zu
dürfen, um zu werken und zu wirken! Wiederholte Besuche zeugten vom
ständigen Fortgang der Arbeiten, aber es traten auch immer wieder neue
Schwierigkeiten auf. Namentlich die so temperatur-empfindlichen Pfeifen
ließen es oft der nun eben notwendigen Harmonie fehlen. So mussten
selbst die weißen Glacéhandschuhe geopfert werden, um mit ihrem weichen
Leder die Ventile dicht zu schließen. Eine fehlende Flöte wurde
nachgearbeitet, und auch dem Holzwurm musste der Garaus gemacht werden.
Unendlich viel zeitraubende kleine Reperaturen waren nötig, um endlich
doch zum Ziel zu kommen. In ihrem Aufbau ist diese Schwarzwälder
Flötenspieluhr orgelähnlich mit 46 verschiedenen großen Pfeifen
ausgestattet, die in zwei Register aufgeteilt sind. Die oberen größeren
ergeben die Oktave der unteren Piccoloflöten. Aller Stunden nach dem
Glockenschlage spielt ein Stück. Die Flötenuhr
ist noch heute im Bestand des Oschatzer Stadt- und
Waagenmuseums und ist nach wie vor in einem guten Zustand. Foto:
Oschatzer Stadt- und Waagenmuseum |
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Werk mir Walze und Pfeifen Foto:
Albrecht Drei hölzerne Walzen mit je acht Musikstücken
lassen sich gegenseitig austauschen. Spiel- und Uhrwerk werden von Gewichten
angetrieben, das des Spielgewichts beträgt 75 Pfund. Die Uhr hat eine Laufzeit
von einer Woche. Ein Schlaghammer schlägt auf einer Bronzeglocke die Uhrzeit an.
Das Spielwerk muss öfter aufgezogen werden. Das Gehäuse ist 2,5 Meter hoch, das
Zifferblatt hat die Ausmaße von 0,75 x 0,52 Meter. Es trägt als Bild einen
bunten Kopf, wie ein hochplaniger sechsspänniger Fuhrmannswagen von einem
reitenden blaukittligen Fuhrmann geleitet vor einem Gasthaus zur Einkehr oder
Übernachtung vorfährt; Was die Walzen spiele, sind anspruchslose kleine
Musikstücke einer längst vergangenen Zeit, die der brave Meister Ignaz in
eigener variabler Rechtschreibung noch deutlich lesbar mit Tinte auf drei
Holzfelder schrieb. Es mag nur noch wenige derartige Werke geben, so dass z.B;
das Märkische Museum, Abteilung Automatophone, glücklich wäre, es zu besitzen.
Durch Herrn Bruder verständigt, haben sich auch schon zwei Spezialisten auf
diesem Gebiete aus München und Leipzig (letzterer machte seine Doktorarbeit über
Drehorgelwerke) gemeldet, die stark interessiert sind, Einzelheiten zu erfahren.
Um die Stimmung zu halten, ist die Aufstellung der Uhr in einem gleichmäßig
temperierten Raume des Museums Voraussetzung. Unserem über 85jährigen Oschatzer
Meister Curt Lehmann, der für das Oschatzer Museum schon etliche antike Uhren
wieder in Gang brachte, gebührt für diese einmalige Arbeit besonderer Dank und
Anerkennung.
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