Kleinforster erzählen ihre Geschichte
Rudolf Tischer
Meine Kindheit in Kleinforst
ich denke oft
an meine Kindheit in Kleinforst zurück. Meine Eltern wohnten in
einem alten Haus, das mein Vater von seinen Eltern geerbt hatte. Es
war weiß angestrichen, etwas größer als die Nachbarhäuser und hatte
zwei Stockwerke. Die zwei separaten Wohnungen im Hause erreichte man
über einen Haupteingang vom Hof aus. Es gab im Haus keinen
elektrischen Anschluss, kein Wasser, wir hatten auch keinen eigenen
Brunnen. Abort
befand sich in einem Nebengebäude. Der Gang über den Hof dorthin war
im Winter bei Eis und Schnee nicht gerade verlockend und in der
warmen Jahreszeit stank es entsetzlich aus der Grube. Unsere gesamte
Familie bestand aus sechs Personen. Als ich 1920 zur Welt kam,
hatten meine Eltern bereits drei Mädchen. Mein Vater war deshalb
sehr glücklich, als ich geboren wurde. Er hatte nun endlich einen
Jungen in der Familie. Ich war das letzte Kind von Alma und Paul
Tischer. Unser Haus
hatte drei Schlafräume. Zuerst schlief ich bei meinen Eltern, später
teilte ich mir einen Schlafraum mit meiner jüngsten Schwester. Wir hatten auch
ein Wohnzimmer, das wir aber fast nie benutzten. Gewöhnlich spielte
sich alles in der Küche ab. Es war nur ein kleiner Raum, in der
Mitte stand ein hölzerner Tisch, an dem wir alle Mahlzeiten
einnahmen. An diesem Tisch erledigte ich auch meine Hausaufgaben und
oftmals bereiteten zur gleichen Zeit meine Mutter oder meine
Schwestern das Essen darauf zu. Obwohl unser
Anwesen kein Bauerngrundstück war, hatten wir trotzdem Vieh und
bauten Nahrungsmittel für den eigenen Bedarf an. Viele Jahre lang
hatten wir Schweine, Gänse, Ziegen, Enten, Schafe und Hühner. Wir
hatten auch einen Hund und selbstverständlich auch Katzen, die die
Mäuse und Ratten im Stall und im Haus wegfangen sollten. Unser Haus lag
auf einer Anhöhe mit einem schönen Ausblick auf das Döllnitztal. Auf
den Wiesen grasten oft Kühe, Schafe und Pferde. Die Kleinbahn fuhr
täglich an Kleinforst vorbei und verband viele Dörfer in der
Oschatzer Umgebung miteinander. Durch das Tal schlängelte sich ein
kleiner Bach, die Döllnitz. Wenn diese im Winter über die Ufer trat,
wurde aus dem Tal ein gefrorener See. Wenn dann im Frühjahr das Eis
taute, gab es oft Hochwasser. Auf der
gegenüberliegenden Seite des Tales lag eine Rosenplantage. Wenn die
Rosen in voller Blüte standen, sah die Anhöhe aus wie ein
Kunstgemälde, mit roten, pinkfarbenen und weißen Punkten auf grünem
Hintergrund. Am Horizont sah man die Umrisse der Oschatzer Häuser
und Fabriken mit ihren unterschiedlichen Höhen. Über allem ragte die
Kirche mit ihren zwei Türmen heraus, sie war das höchste Bauwerk der
Stadt. Wir hatten
unsere eigene kleine Kirche in Altoschatz. Dort fanden sich die
Leute zum Gebet zusammen, dort erfuhr man aber auch, wer geboren
wurde, wer gestorben war und wer sich verheiratet hatte. Auch meine
Schwestern und ich wurden in der Altoschatzer Kirche getauft und
konfirmiert. Unsere Familie
konnte nicht regelmäßig an den Gottesdiensten teilnehmen. Es war
aber immer ein großes Ereignis für uns, an Festtagen in die Kirche
zu gehen. Zu diesem Anlass zogen wir immer unsere besten Kleider an. Die Stadt
Oschatz lag nur wenige Kilometer von Kleinforst entfernt und viele
Leute von hier gingen dort einer Arbeit nach. Es gab aber auch
Leute, die auf einigen größeren Bauerngütern in der Umgebung
beschäftigt waren. Mein Vater
arbeitete in Oschatz bei der Firma Marthaus, einer der größten
Arbeitgeber in der Stadt. Er hatte große Mengen des Rohmaterials für
die Herstellung von Filzschuhen zu transportieren und die Fertigware
von der Fabrik zur Bahnstation zu fahren. Damals hatten die Fabriken
noch keine Lastkraftwagen, also benutzten sie zum Transport
Fuhrwerke, die von Pferden gezogen wurden. Die Pflege und Versorgung
dieser Pferde gehörte mit zur Arbeit meines Vaters. An sie habe ich
die schönsten Kindheitserinnerungen. Jedes Wochenende gingen mein
Vater und ich Hand in Hand zu den Ställen. Mein Vater war groß,
schlank und ruhig. Ich fühlte mich immer so klein, wenn ich neben
ihm ging. Im Stall setzte er mich auf eine Bank und ich sah ihm gern
zu beim Füttern, bei der Pflege der Pferde und beim Ausmisten des
Stalles. Ich höre in meiner Erinnerung noch heute, wie sie ihr
Futter fraßen. Es war ein eigenartiges Geräusch, wenn sie mit ihren
Zähnen das Futter zermalmten und zerkauten. Mein Vater ließ
mich im Stall immer kleine Dinge erledigen. Er wollte mir das Gefühl
geben, dass ich ihm eine große Hilfe bei der Arbeit bin. Ich weiß
aber heute, dass er mich dazu gar nicht brauchte und er ließ mich
nur arbeiten, weil ich Freude daran hatte. An Sonntagen
nahm mich mein Vater auch manchmal zur großen Bahnstation nach
Oschatz mit. Wir saßen dort stundenlang und beobachteten das Kommen
und Gehen der Züge. Damals waren die Eisenbahnen immer noch eine
relativ neue Erscheinung. Es war auch neu, dass Menschen in so
großer Zahl verreisten und so große Strecken zurücklegen konnten. Mir als Kind
erschienen die Lokomotiven unheimlich groß. Ich war fasziniert von
den riesigen Stahlrädern, die viel größer waren als ich selbst.
Nicht alle Züge hielten in Oschatz. Schnellzüge fuhren mit solcher
Geschwindigkeit durch, dass der Erdboden erzitterte. Es war, als
wenn ein riesiges Ungeheuer an uns vorbeiraste. Wir wollten so nahe
wie möglich an den Gleisen stehen und klammerten uns fest an den
kleinen Zaun, der uns von der Bahnstrecke trennte. Unter unseren
Füßen bebte der Erdboden und die Haut in unseren Gesichter verzog
sich durch den gewaltigen Luftzug. Dann verschwand die Bahn aus
unseren Augen und es war eine unheimliche Stille in unseren Ohren. Wenn die Züge
am Bahnhof hielten, verbrachte ich viel Zeit damit, die riesigen
Dampfrösser und das Bedienungspersonal zu beobachten. Der Lokführer
stieg von der Lokomotive herunter und ging um diese herum. Er hatte
eine große Ölkanne in der Hand, mit der er die Lager schmierte. Er
trug eine Uniform und eine kleine runde Mütze. Beides war so mit Öl
verdreckt, dass man das Gewebe beinahe nicht mehr erkennen konnte.
Sogar sein Gesicht und die Arme waren mit Öl verschmiert. Ich war
beeindruckt, er sah so wichtig und imposant aus! Als der
Lokführer mit seiner Arbeit fertig war, setzte er das Ungeheuer
wieder in Bewegung. Das war mit vielen Geräuschen verbunden. Beim
Abfahren des Zuges quietschten die Räder auf den Gleisen und mit
zunehmender Geschwindigkeit wurde das Quietschen durch ein
rhythmisches metallisches Geräusch abgelöst, das sich allmählich in
der Ferne verlor. Ich war so
fasziniert, dass ich mich entschied, später einmal Lokführer zu
werden. Aber dann begriff ich sehr schnell, dass der Lokführer auch
eine enorm große Verantwortung für das Leben der Reisenden im Zug
hat. Man sagte mir auch, dass der Beruf eines Lokführers eine höhere
Schulbildung erfordern würde und dass man dafür viel Geld braucht.
Und ich wusste, dass das meine Familie nicht hatte. Leider konnte
mein Vater nicht mehr erleben, dass sich mein Traum später doch noch
erfüllte. Ich wurde Ingenieur - wenn auch kein Lokführer! Als ich 8 Jahre
alt war, starb mein Vater. Meine Mutter musste noch härter arbeiten,
um unsere Familie satt zu bekommen. Sie half auf dem nahe gelegenen
Berggut im Haushalt, machte sauber und wusch die Wäsche.
Glücklicherweise war unser Haus so groß, dass wir noch eine zweite
Familie aufnehmen konnten. Durch die Mieteinnahmen hatten wir noch
ein zusätzliches Einkommen. Damals zog die Familie Wendisch bei uns
ein. Sie hatten eine Tochter und den Sohn Willi. Max Wendisch, der
Vater, arbeitete in einer Fabrik in Oschatz. Er brachte mir bei, wie
man Feuerholz schneidet und spaltet. Er war immer hilfsbereit und
half uns bei den Arbeiten, die rund um das Haus zu erledigen waren.
So bestand ein herzliches Verhältnis zwischen uns und den neuen
Mietern. Als meine
Schwestern von zu Hause ausgezogen waren, sah meine Mutter in dem
freigewordenen Schlafraum eine Gelegenheit, Pflegekinder
aufzunehmen. Dadurch konnte sie auch noch zusätzlich etwas Geld
verdienen und während sie auf Arbeit war, sollte ich mit der
Betreuung der Pflegekinder eine sinnvolle Beschäftigung haben. Eines der
Kinder, das meine Mutter annahm, war weniger als ein Jahr alt. Wenn
ich irgendwohin gehen wollte, hatte ich es immer im Kinderwagen
mitzunehmen. Das war eine große Erniedrigung für mich. Die anderen
Jungen in der Siedlung verhöhnten mich, weil ich den Kinderwagen schieben musste. Und es kam
noch schlimmer, ich musste auch noch die stinkenden Windeln von dem
Kleinen wechseln! Ich entschied
mich aber, meine Verpflichtungen zu erfüllen und versuchte, alles mit Humor zu
ertragen. Trotz der Hänselei wollte ich das Kind auch weiterhin in
den Kinderwagen legen und mit meinen Freunden spielen gehen. Manchmal
stellte sich jedoch heraus, dass diese Ausfahrten für das Baby gar
nicht so ungefährlich waren. Ich erinnere mich, dass ich einmal mit
meinen Freunden auf der Straße mit dem Ball spielte. Wir waren auf
dem unteren Ende der Straße, wo der Abhang zur Aue hinunterführt.
Ich hatte das Baby mit dem Kinderwagen an der Straßenseite
abgestellt. Das Baby hatte sich dort während unseres Spieles
scheinbar heftig bewegt und der Wagen kam dadurch ins Rollen. Wir nahmen davon erst
Notiz, als es schon zu spät war. Wir sahen den Wagen nur noch den
Hang hinunterrollen und in ein Kornfeld hineinfahren. Dort kippte er
um und das Baby flog im hohen Bogen durch die Luft. Wir rannten
sofort hin und fanden zuerst nur ein kleines Kopfkissen. Dann hörten
wir irgendwo etwas schreien und fanden auch das Baby. Was für ein
Glück - es war auf einem weichen Fleck im Kornfeld gelandet. Es
hatte nichts gebrochen und keine Schramme davongetragen. Aber es
schrie wie am Spieße. Es hatte keine Verletzungen, es war nur
furchtbar erschrocken. Und bald konnten wir wieder zurückgehen und
weiter mit dem Ball spielen. Ein anderes Mal
nahm ich das Baby mit auf ein Feld, wo wir Fußball spielten. Wir
schossen den Ball hin und her und ein unplatzierter Ball traf das
Baby beinahe am Kopf. Diesmal hätte es wirklich ernsthaft verletzt
werden können, da der Ball sehr scharf geschossen wurde. Zum Glück
traf er aber nur den Kinderwagen an der Seite und ich konnte gerade
noch verhindern, dass er umstürzte. Eines meiner
Erlebnisse mit den Pflegekindern ist besonders lustig, obgleich es
mir damals gar nicht zum Lachen war. Eines Tages kam
ich von der Schule nach Hause. Meine Mutter erzählte mir, dass sie
Helmut, das war ein neues Pflegekind, für ein Schläfchen in mein
Bett gelegt hätte. Das sollte ich wissen, damit ich ihn nicht beim
Schlafen störe. Helmut war ungefähr zwei Jahre alt und natürlich war
ich neugierig, was er da in meinem Bett macht. So sah ich immer
wieder nach ihm, so oft es ging. Durch die Verdunkelung war es in
dem Raum sehr dunkel. Immer wieder kontrollierte ich, ob er noch
schläft. Nach mehreren Stunden hörte ich ihn endlich sprechen. Ich
lief zu ihm hin und sah, dass er oben auf der Bettdecke saß. Ich
konnte gerade so sein Gesicht sehen, es sah ganz seltsam aus. Ich
ging auf ihn zu, legte meine Hände auf die Pfosten vom Betthaupt,
beugte mich über ihn und sagte: „Helmut, wie schön, dass du munter
bist“. Und dann merkte ich, dass da etwas an dem Bettpfosten war und
an meiner Hand. Und tatsächlich, es war überall etwas davon, auch in
seinem Gesicht. Deshalb sah er auch so unheimlich aus. Er hatte sich
eingemacht und damit gespielt. Damals wusste
ich, ich wollte nie wieder Babys betreuen, nie wieder!
Trotz des
frühen Verlustes meines Vaters und trotz der Pflegekinder, die ich
betreuen musste, hatte ich eine recht gute Kindheit. Gleich den
anderen Kindern erledigte ich jeden Tag erst meine Schulaufgaben und
die anderen Arbeiten im Hause und hatte danach Zeit zum Spielen. In Kleinforst
gab es einen Platz, wo sich immer alle Kinder trafen. Ich erinnere
mich noch an viele Jungs, die etwa in meinem Alter waren: Gerhard
Schubert, Hermann Wetzig, Erhard Gruhle, Willi Wendisch, Hans-Georg
Ehrlich und Rudi Barche. Wir organisierten immer etwas zu unserer
Beschäftigung. Die einen spielten Fußball, die anderen lieber
„Verstecken und Suchen“ oder andere Spiele. Wir waren überwiegend
Jungens, manchmal kamen aber auch Mädchen hinzu. Im zeitigen
Frühjahr, wenn das Eis auf der Döllnitz zu tauen begann, brachen
große Eisstücke ab und schwammen oben auf dem Wasser. Wir sprangen
auf diese Eisschollen und stießen uns mit langen Stöcken ab, bis wir
in Fahrt kamen. Uns kam es vor, als wären wir auf einem Floß. Das
Spiel war zwar sehr gefährlich, es machte uns aber großen Spaß. Im Winter gab
es gewöhnlich Schnee im Überfluss und wir hatten dadurch immer eine
Gelegenheit zur Beschäftigung. Wir besorgten uns Bretter und machten
daraus ganz einfache Schneeschuhe, die wir mit Riemen und Bändern an
unseren Schuhen befestigten. Manchmal zerbrachen wir ein Holzfass
und benutzten die gebogenen Fassdauben als Schlitten. Dann bauten
wir kleine Sprungschanzen, um die Abfahrt noch gefährlicher zu
machen. Auf dem
Altoschatzer Teich liefen wir den ganzen Winter hindurch
Schlittschuh und spielten Eishockey. Wer keinen Eishockeyschläger
hatte, nahm einfach einen Stock. Oftmals hatten wir Angst zu
spielen, da das Eis noch nicht dick genug gefroren war. Dann
warteten wir lieber noch. Es kam aber doch vor, dass einer oder
mehrere von uns einbrachen. Wir wussten, dass zu Hause immer große
Aufregung war, wenn wir nass ankamen. Einmal, es war mitten im
Winter, streiften wir deshalb unsere nassen Kleider ab und machten
ein kleines Feuer am Rande des Teiches. Anstatt nach Hause zu gehen,
hingen wir die Sachen um das Feuer herum und versuchten verzweifelt,
diese zu trocknen. Wir waren halb nackt und es war sehr kalt. Der Leichtsinn
war für uns Jungs ein Teil unseres Lebens. Wir taten oft Sachen, die
wir noch gar nicht richtig beurteilen konnten. Wir waren eben jung
und abenteuerlustig. Einer von uns
Jungens hatte Zugang zu Zigaretten, Zigarren und Pfeifentabak. Da
war es für uns das Größte, zusammenzukommen und zu rauchen. Ich
erinnere mich, dass mir nach dem ersten Mal so übel wurde, dass ich
mich an Ort und Stelle übergeben musste. Ich glaube nicht, dass
irgend jemand von uns in dieser Zeit wirklich Gefallen am Rauchen
gefunden hat, aber einige von uns rauchten schon deshalb weiter,
weil sie sich dadurch erwachsener fühlten. Als Kind hatte
ich immer bestimmte Pflichten zu erledigen, bevor ich mit dem
Spielen beginnen konnte. So hatte ich manchmal die Schafe auf das
Gras zu führen, die Eier von den Hühnern einzusammeln und die
Schweine und Ziegen zu füttern. Eine Aufgabe,
die mir gar nicht gefiel, stand zwei- bis dreimal in der Woche auf dem Plan. Ich musste die
Kartoffeln holen und aussortieren, die meine Mutter zum Kochen für
das Schweinefutter brauchte. Einen Teil davon hatten wir im Garten
in einer Feime untergebracht, die mit Stroh und Erde abgedeckt war.
Der größte Teil lag aber im Keller unter dem Haus. Wir hatten dafür
extra einen Raum, in dem es kein natürliches Licht gab. Wenn wir in
den Keller gingen, mussten wir immer eine Petroleumlampe mitnehmen.
Mit dieser konnte man aber auch nur wenig sehen. Wenn wir in den
Keller wollten, mussten wir in der Küche durch eine Öffnung im
Fußboden hinuntersteigen. Diese Öffnung war mit einer Klappe
verschlossen. Der Geruch, der einem aus dem Keller entgegenkam, wenn
man die Klappe öffnete, war entsetzlich. Und er verschlechterte
sich, je länger die Kartoffeln lagen und je wärmer es draußen wurde.
Manchmal erwischte ich Kartoffeln, die waren so verfault, dass ich
nur noch Mus in den Händen hatte. Noch ekeliger war es, wenn man
statt einer Kartoffel eine Kröte erwischte. Diese waren fett und mit
Warzen und Schleim bedeckt. Wir konnten sie auch quaken hören, wenn
sie in den Kartoffeln herumkrochen. Eines
Nachmittags nahm ich wieder einmal meinen Korb und stieg in den
Keller. Ich hörte meine Mutter nach Hause kommen. Sie stellte zwar
fest, dass ich im Keller bin, aber aus irgend einem Grund schloss
sie die Klappe. Normalerweise war das kein Problem, die Klappe von
unten wieder zu öffnen. Ich arbeitete deshalb erst einmal weiter.
Dann wurde mir aber der Gestank zu stark und ich fühlte, dass ich
wegen der fehlenden Luftzirkulation kaum noch atmen konnte. Nun
versuchte ich, die Klappe zu öffnen. Aber es ging nur ein kleines
Stück. Ich konnte durch diesen kleinen Spalt erkennen, was passiert
war. Eine Tür, die zum Nachbarzimmer führte, stand offen und
verhinderte das Öffnen der Klappe. Ich schrie nach meiner Mutter,
aber sie arbeitete im Garten und konnte mich nicht hören. Ich geriet
in Panik, weil ich befürchtete, dass mir der Sauerstoff ausgehen
würde. Ich kletterte über den Kartoffelberg, um das kleine
vergitterte Fenster zu erreichen, das zur Straße zu eingebaut war.
Ich hatte dort gerade erst den Fensterrahmen erneuert und diesen mit
Eisen und Nägeln verstärkt. In meiner Panik, oder wie auch immer,
drängte ich mich durch die Öffnung hindurch und kam mit meinem
Körper zur Hälfte heraus. Glücklicherweise gab es ein paar Jungs,
die in der Nähe spielten und meinen Hilferuf hörten. Sie kamen und
halfen mir auf dem letzten Stück des Weges nach draußen. Ich hatte
zwar Beulen und Verletzungen von den scharfen Kanten des
Fensterrahmens, aber sonst war ich o.k.
Als ich etwa 10
Jahre alt war, arbeitete ich zusätzlich zu meinen häuslichen
Pflichten in den Sommermonaten bei den Bauern, um unsere
Familienkasse etwas aufzubessern. Das nahegelegene Berggut, auf dem
bereits meine beiden Schwestern arbeiteten, suchte Mädchen und
Jungen für die Feldarbeit. Gewöhnlich waren es reichlich 20 Kinder,
die speziell beim Verziehen der Rüben gebraucht wurden. Die Pflanzen
waren in Reihe ausgesät worden und gewöhnlich waren dort 10 Pflanzen
aufgegangen, wo nur eine hingehörte. Die übrigen hatten wir nun
herauszuhacken. Wir arbeiteten den ganzen Tag auf den Knien, bei
Sonne und Wind und manchmal auch bei Regen. Es war eine harte Arbeit
für uns Kinder und es gab noch zusätzlich einen Wettbewerb unter
uns, wer das meiste schafft. Natürlich gab es auch einen
Kontrolleur, der auf dem Feld hinter uns herlief und aufpasste, dass
die Arbeit auch richtig ausgeführt wurde. Wenn wir zu schnell
arbeiteten, machten wir auch Fehler. Entweder nahmen wir aus
Versehen alle Pflanzen weg oder ließen zu viele stehen. Dann bekamen
wir vom Aufseher mit einem Stock einen Schlag auf den Rücken. Je nach
Leistung wurden etwa 5 Pfennige für die Stunde bezahlt, aber ich war
glücklich, dass ich überhaupt Arbeit hatte. Während eines
Sommers hatte ich die Möglichkeit, in der Rosenschule zu arbeiten,
die gegenüber von Kleinforst in Oschatz lag. Ich erinnere mich noch
an die älteren Frauen, die dort arbeiteten. Sie waren darin
ausgebildet, Rosen zu veredeln und zu kultivieren. Sie mussten dazu
ein kleines Stück von einer edlen Rose in eine Wildrose einsetzen.
Diese Stelle war sehr empfindlich und empfänglich für Krankheiten.
Meine Aufgabe bestand darin, die veredelte Stelle einzubinden, um
diese zu schützen. Diese Arbeit brachte mir 10 Pfennige in der
Stunde. Obwohl der Tag sehr lang und das Wetter oft sehr heiß war,
waren die Arbeitsbedingungen dort viel besser als auf dem Feld. Durch das
Versorgen der Tiere bei uns zu Hause und durch das Arbeiten in der
Landwirtschaft entwickelte sich in mir die Liebe zur Natur. Diese
frühen Erfahrungen beeinflussten mich für mein ganzes Leben. Ich
habe bis heute die Liebe und das Interesse an der Natur nicht
verloren.
Als ich
ungefähr 12 Jahre alt war, wurde meine Schwester schwanger, obwohl
sie noch gar nicht verheiratet war. In einer kleinen Gemeinde wie
Kleinforst war es beinahe unmöglich, so etwas geheim zu halten. Es
sprach sich schnell herum und brachte unsere Familie etwas in
Schwierigkeiten. Um diese Zeit
wusste ich aber noch nicht, woher die Babys eigentlich richtig
kommen. Ich hatte immer noch die Vorstellung, dass der Storch die
kleinen Kinder bringt. So verstand ich nicht, warum diese
Schwangerschaft eine so aufregende Angelegenheit war. Die Jungen in
der Nachbarschaft diskutierten über das Phänomen und nach einiger
Zeit dachte ein älterer Junge, er hätte die Antwort auf diese Frage
gefunden. Wir kamen aber trotzdem nicht hinter das Geheimnis. Eines Morgens,
ich war noch halb im Schlaf, hörte ich von unten ein eigenartiges
Geräusch. Es hörte sich an, als würde ein kleines Kätzchen vor
Hunger nach seiner Milch rufen. Kurz danach öffnete meine Mutter die
Tür zu meinem Zimmer, kam herein und setzte sich an das Ende meines
Bettes. Sie sagte: „Rudi, ich habe eine Neuigkeit für dich, deine
Schwester hat ein Baby bekommen“. Ich drehte mich sofort um und
begann zu weinen. Ich war so entsetzt. Ich dachte, ich müsste jetzt
wieder die Arbeiten übernehmen, wie bei den anderen Babys. Meine Schwester
und ihr Baby blieben in unserem Haus. Ich erinnere mich noch genau
an die Zustände in unserer Küche. Wenn ich am Tisch saß, um mein
Frühstück einzunehmen, oder wenn ich die Hausaufgaben machte, immer
lag das Baby neben mir und wurde gefüttert oder gewickelt. Das Baby
kam auf den Tisch, ohne Rücksicht darauf, was wir gerade taten.
Manchmal roch es dann auch recht unangenehm. Dann verzog ich mich
lieber an einen anderen Ort.
Das waren
einige meiner Erinnerungen an Kleinforst. Die Leute lebten damals
einfach und bescheiden. Vielleicht war deshalb auch ihr
Gemeinschaftssinn so sehr ausgeprägt. Ganz gleich, ob etwas Gutes oder Schlechtes passierte, die
Kleinforster hielten immer zueinander. Auch das hat mich für mein
späteres Leben geprägt. Wenn es meine Zeit und meine Gesundheit
erlauben, komme ich noch immer gern in meine Heimat zurück.
Zu den „Erinnerungen an Kleinforst“ noch ein
Nachtrag:
Unter dem Titel „The King
off the Road“ schrieb Herr Rudolf Tischer seine Autobiographie, aus
der der vorhergehende Text mit seiner Zustimmung entnommen wurde.
Die Übersetzung aus dem Englischen besorgten Frau Elfriede Milde und
Herr Hermann Schöne.
In seiner Erzählung schildert Herr Rudolf Tischer auch einige
Erlebnisse, die er als Kind mit seinem Vater hatte. Zur Person
seines Vaters Paul Tischer wäre noch folgendes nachzutragen:
Paul Tischer wurde 1878 geboren. Nach dem Schulabschluss arbeitete
er als Knecht bei verschiedenen Gutsbesitzern in Lonnewitz und
Zeicha. Danach trat er seinen Militärdienst an und diente von 1899
bis 1902 bei einem Rittmeister in Borna bei Leipzig als
Pferdebursche. Anschließend bekam er nach einer einjährigen
Dienstzeit als Knecht in Merkwitz eine Anstellung bei der Firma
Ambrosius Marthaus in Oschatz als Kutscher. Diese Tätigkeit war
scheinbar die ideale Arbeit für ihn. Er war nicht mehr in der
Landwirtschaft beschäftigt, hatte es aber trotzdem noch mit Pferden
zu tun. Die Arbeit wird für ihn interessant und abwechslungsreich
gewesen sein und vielleicht verdiente er dabei auch etwas mehr Geld
als früher. Der Firma Marthaus hielt er jahrzehntelang die Treue. Im Februar 1929 wurde das
auch entsprechend gewürdigt. Von der Handelskammer Dresden erhielt
Paul Tischer für seine 25jährige Betriebszugehörigkeit das tragbare
Ehrenzeichen am grün-weißen Bande. Eine schöne Auszeichnung und
Anerkennung! Die Ehrung nahm im Auftrage der Handelskammer Herr
Franz Techner vor, der damals Direktor der Chemischen Fabrik Lipsia
Mügeln und Kammermitglied war.
Als Paul Tischer im gleichen Jahr verstarb, würdigte der Firmenchef
Ambrosius Marthaus in einer Traueranzeige am 6. Juni im „Oschatzer
Gemeinnützigen“ den schlichten und edlen Charakter des Verstorbenen und seine Verdienste
für die Firma.
Paul Tischer war nicht der einzige, der mit dem Pferdefuhrwerk für
einen Oschatzer Betrieb unterwegs war. Viele Firmen erledigten ihre
Transporte auf diese Weise. Für diese relativ kurzen Wege innerhalb
der Stadt waren die Gespanne das wirtschaftlichste Betriebsmittel
der damaligen Zeit. Die Pferde wurden übrigens nach etwa 3 Jahren
„pflastermüde“ und mussten ausgewechselt werden. Den letzten Kutscher wird wohl die Oschatzer Waagenfabrik
beschäftigt haben, früher Kopp und Haberland. Er hieß Max Martin und
war der Nachfolger von Max Ruff. Der Wechsel zwischen den beiden
erfolgte Anfang der 50er Jahre, danach ist das Pferdegespann nur
noch wenige Jahre in Betrieb gewesen. Es gibt darüber sogar eine
Notiz in der Grundmittelkartei: „Unser Pferd „Liese“ ist aus dem
Betrieb ausgeschieden.“ Die Tradition der Fuhrleute setzte Max Ulbrich noch lange Zeit in
Oschatz fort. Er gehörte aber keinem Betrieb an, sondern arbeitete
selbständig.
Ehrhard
Gruhle Wie mein Großvater zu seinem Fahrrad kam
Mein
Großvater Ernst Gruhle war gelernter Maurer und um 1900 herum Polier
beim Oschatzer Baumeister Gehlhaar. Er ging jeden Tag zu Fuß zur
Arbeit, das war damals selbstverständlich, auch wenn die Baustellen
kilometerweit entfernt lagen. Er unterschied sich damit auch nicht
von den anderen seiner Zunft, aber gerade das störte seinen
Arbeitgeber. Die Folge war, dass sich mein Großvater Ernst Gruhle
als Maurerpolier unbedingt ein Fahrrad anschaffen sollte. Nebenbei
versprach sich Gehlhaar sicher auch noch eine größere Beweglichkeit
seines Angestellten während seiner Arbeitszeit. Das war
aber für meinen Großvater leichter gesagt als getan, denn für ein
Fahrrad fehlte es am nötigen Kleingeld. Um das Problem zu lösen, gab
es eigentlich nur eine Möglichkeit: Zu den 2 Schweinen im häuslichen
Stall musste noch ein drittes für das Fahrrad eingesperrt werden.
Das bedeutete aber auch, dass wir fortan noch mehr in die Kartoffeln
gehen mussten, um für den zusätzlichen Fresser etwas
zusammenzustoppeln. Und das war gar nicht so einfach. Es kam wie
geplant, mein Großvater kaufte sich sein Fahrrad und viele seiner
Kollegen werden ihn darum beneidet haben. Fortan unterschied er sich
vom einfachen Fußvolk!
Zur Geschichte mit dem
Fahrrad noch eine Ergänzung:
Das Fahrrad
war zu dieser Zeit noch gar nicht so alt. 1813 hatte es der Badener
Forstmeister Karl Friedrich Feiherr Drais von Sauerbronn erfunden -
ein unbequemes hölzernes Laufrad. Ab 1853 gab es die Tretkurbel, ab
1869 das Hochrad und erst ab 1887 das moderne Niederrad mit
Kettenantrieb, Luftreifen und Freilaufnabe. Gegen Ende des 19ten
Jahrhunderts waren es fast ausschließlich zahlungskräftige
Sportbegeisterte, die sich Fahrräder als Freizeitspaß leisten
konnten. Ein Niederfahrrad kostete damals über 600 Mark! In der
Zeit, in der sich Ernst Gruhle sein Fahrrad kaufte, waren die Preise
schon wesentlich günstiger. So kostete gegen 1903 ein Fahrrad etwa
150 Mark. Für die „kleinen Leute“ war das aber immer noch eine
Unmenge Geld.
Dipl.- Ing.
Manfred Hennig Erinnerungen an die Zeit meiner Kindheit und Jugend in Kleinforst
Ich wurde am 7. Mai 1932 in Kleinforst geboren und wohnte im Haus
Nr. 50 (Paul-Schuster-Straße 18). Am 1. April 1938 wurde ich in der
Volksschule Altoschatz eingeschult und kam so unter die
erzieherische Obhut unseres beliebten Lehrers und Kantors Martin
Matthäus, der bei uns nur „Matcher“ hieß. Wie sah
damals unser Schulweg aus? Das Doppelhaus Küttner / Walter (heute
Paul-Schuster-Straße 12 und 10) war damals das letzte Wohnhaus auf
der Siedlerstraße in Richtung Altoschatz. Von da ab gab es nur einen
unbefestigten Weg, der etwa am „großen Stein“ auf die bessere Straße
einmündete, die vom „alten Forscht“ herunter kam. Der „große Stein“
war ein mächtiger Quader aus dem Altoschatzer Steinbruch und für uns
ein beliebter Treffpunkt. Wir waren dort auch immer zur Stelle, wenn
ein Kleinforster mit einem schwer beladenen Handwagen den Berg hoch
musste. Im Winter
war unser Siedlungsweg eine beliebte Schlitten- und Schlitterbahn.
Bis zur Schlachtezeit der Gänse hatten übrigens alle Schulgänger
Probleme mit dem obersten Ganter der Gänseschar meiner Tante Minna
Küttner. Er war bissig wie ein Hund! Der
Charakter der Siedlung hat sich bis heute kaum verändert. Anders
dagegen das Gelände zwischen Kleinforst und dem Berggut. Dort gab es
bis kurz nach dem Krieg zwei Restlöcher vom Quarzitabbau, die mit
Grundwasser vollgelaufen waren. Das war unser Paradies! Wir
unterschieden zwischen dem hinteren und dem vorderen Teich. Der
vordere Teich zog sich vom Grundstück Werschnik aus über eine Länge
von etwa 200 Metern hin. Er ging fast bis an den hinteren Teich
heran, einem Rundling mit einem Durchmesser von etwa 50 Metern. Im Sommer
nutzten wir diese als Badeteich und im Winter zum Eislaufen.
Richtige Schlittschuhe hatte von uns keiner. Es gab nur die
sogenannten „Absatzreißer“, die sich an der Sohle und im Absatz
festkrallten. Man kann sich leicht vorstellen, wie das über die
Schuhe ging. Es gab aber
auch Karpfen, Schleie und Barsche in den Teichen. Sie gediehen darin
prächtig, denn das Wasser wurde ja nie abgelassen. Wie wir mit
primitiven Mitteln zu unseren Fischen kamen, darüber könnte man noch
viele Geschichten erzählen. Im hinteren Teich gab es sogar
Kammmolche und Feuersalamander. Hier hatte sich die Natur ihr
eigenes Paradies geschaffen. Nach dem Kriege richtete
„Heilkräuter-Förster“ oberhalb des hinteren Teiches eine Plantage
ein, in der er Heilkräuter anbaute. Da waren auch Pflanzen dabei,
die uns vollkommen unbekannt waren. Leider
begann die Stadt Oschatz in den letzten Kriegsjahren, beide Teiche
als Mülldeponie zu nutzen. Der Vorschlag der Kleinforster,
wenigstens den vorderen Teich zu erhalten, wurde abgelehnt. So
wurden die Restlöcher verfüllt und auf dieser Fläche eine
Kleingartenanlage errichtet. Wahrscheinlich wissen einige der
jetzigen Nutzer gar nicht, was unter ihrer Scholle einmal war.
Ein
weiterer Treffpunkt von uns Kindern war die „Eiche“, ein mächtiger
Eichenstamm, der am Hang hinter dem heutigen Grundstück
Paul-Schuster-Straße 8 lag. Das Gelände gehörte zum Berggut und war
mit Stacheldraht eingezäunt. Beim Erscheinen des Berggutbesitzers,
Herrn Kästner, mussten wir immer schleunigst Reißaus nehmen. Obwohl
wir ihm immer beim Rübenverziehen und beim Kartoffelnlesen halfen,
machte er da keine Ausnahme. Auch am
Abzweig der heutigen Querstraße von der Paul-Schuster-Straße haben
wir viel gespielt. An diesem kleinen Platz lagen die Grundstücke von
Hugo Richter, Paul Pötzsch, Paul Quitzsch und Walter Riedel.
Besonderen Respekt hatten wir vor Herrn Richter, mit ihm war nicht
gut Kirschenessen. Besonders dann, wenn das Gras auf der Wiese vor
der Mahd stand und uns der Ball über den Zaun geflogen war. Um ihn
zu ärgern, hoben uns manchmal die Großen absichtlich über den Zaun,
obwohl gar kein Ball zu holen war. Dieser
Platz war zur damaligen Zeit auch der Haltepunkt für das Dreiradauto
eines Fischhändlers aus Oschatz. Er hieß bei uns nur der
„Heringsbändiger“ und sein Dreiradauto die „Dreikantfeile“.
Ebenfalls
aus Oschatz, oder „aus der Stadt“, wie es damals hieß, war der
Getränkehändler. Er kam mit seinem Fuhrwerk und verkaufte gezapfte
und abgefüllte Getränke. Die Fassbrause vom Bierkutscher war bei uns
der absolute Renner. Außerdem
kam auch noch der Bäcker Taube aus Merkwitz mit seinem
Einspänner-Planwagen, der von einem Schimmel gezogen wurde. Er verkaufte hier hauptsächlich
Brot. In
Kleinforst selbst waren damals auch noch viele Handwerker und
Gewerbetreibende ansässig. Beginnen wir mit dem Besenbinder Paul
Quitzsch in der heutigen Paul-Schuster Straße. Er verdiente sein
Brot nicht leicht mit seiner Arbeit. Sein Sohn Horst war damals mein
Spielgefährte. Er musste zu Hause immer helfen, wenn es an den
Schnitt des Besenreisigs ging. In der
heutigen Forststraße betrieb Ida Finke einen Kolonialwarenladen. Sie
war meine Patentante und wurde „Finken-Idel“ genannt. Ihr Laden war
ein echter „Tante Emma Laden“. In ihm fehlte nicht einmal die Bank,
auf die man sich setzen konnte, wenn der Austausch der Neuigkeiten
längere Zeit in Anspruch nahm. Ihr Mann Bruno betrieb im Hinterhof
eine kleine Tischlerei. Vom Sarg bis zum Wohnzimmerschrank stellte
er alles her. Nur wenige
Schritte weiter gab es den Friseur Kurt Höppner, der uns die
modernen „Halbmondfrisuren“ für 50 Pfennige verpasste. Er hatte den
Spitznamen „Matke“. Es hieß deshalb auch nicht: „Du gehst zum
Friseur“, sondern: „Du gehst zu Matke“. Man musste dann immer
höllisch aufpassen, dass man nicht sagte: „Guten Tag, Herr Matke“. Gleich das
nächste Haus gehörte dem Schneidermeister Curt Richter. Er war einer
der 4 Richters, die in Kleinforst wohnten, die aber nicht
miteinander verwandt waren. Um sie zu unterscheiden, wurde
umgangssprachlich noch der Beruf hinzugefügt. So gab es außer dem
Schneider-Richter noch den Hammer-Richter (er arbeitete in Riesa im „Hammer“), den
Friedhofs-Richter und den Schweizer-Richter (er arbeitet als
Schweizer im Berggut). Bei Schneider Richter konnte man in meiner
Jugendzeit auf die damals obligatorische Punkte- oder Kleiderkarte
einen maßgeschneiderten preiswerten Anzug erhalten. Einen
Kleiderbügel mit seinen Initialen benutze ich noch heute in meinem
Haushalt. Nur ein
kleines Stückchen weiter war der nächste Handwerker, der Schuhmacher
Robert Koch. Er war ein kinderfreundlicher, lustiger Handwerker. Bei
ihm konnte ich stundenlang in der Werkstatt sitzen und zuschauen,
wie er die Holztäkse aus dem Mund nahm und die Schuhe besohlte. In der
unteren Reihe in Kleinforst lag gleich neben dem Eckhaus von Willi
Schroth der kleine Hof vom Bauer Anton Kretzschmar. Er ließ seine
Kühe auch den Wagen ziehen, wozu man normalerweise nur die Ochsen
nahm. Ein paar
Häuser weiter war die Bäckerei von Klara Wittig. Sie beschäftigte
Louis Kadner als Gehilfen. Von ihm bekam man auch die in Lot
ausgemessene Backhefe, wenn es zu Hause Hefeklöße geben sollte. Lot
war eigentlich ein Apothekergewicht und entsprach 16,667 Gramm. So
genau wurde das damals mit der Hefe genommen. Wenn wir Louis ärgern
wollten, verlangten wir ein Lot „Haumichblau“ und suchten dann
schnell das Weite. In der
Zeit, in der die „Forschter“ ihre Stollen zum Bäcker trugen, ging es
in der Backstube sehr hektisch zu und alle taten wegen ihrer Zutaten
recht geheimnisvoll. In der Kirmeszeit flutschte der Laden durch die
Lohnbäckerei von Blechkuchen. Ein paar
Häuser weiter kam dann die beliebte Gaststätte „Goldene Höhe“,
damals noch mit Fleischerei. Hilde und Willy Ehrlich sind mir noch
als Besitzer gut in Erinnerung. Bei ihnen fanden auch größere
Familienfeiern statt und viele Vereine hatten dort ihren Treffpunkt. Nach dem
Tod von Willy Ehrlich mussten die Kleinforster die Fleisch- und
Wurstwaren in der Stadt einkaufen. Frau Ehrlich funktionierte den
Laden zur Poststelle um und trug am Vormittag in Kleinforst die Post
aus. Ich sehe die beiden Ehrlichs noch heute vor mir: Hilde mit der
Nickelbrille auf der Nase und Willy in der gestreiften Schürze und
mit dem kleinen Oberlippenbärtchen. Eine gute
Erinnerung habe ich auch noch an Otto Ader, den Kleinforster
Sattler. Er lag mit seinem Haus und seiner Werkstatt ziemlich am
Ende der Straße. Auch er duldete, dass man ihm bei der Arbeit über
die Schulter schaute, obwohl die Naht am Schulranzen schnell
erledigt war. Die
Konfirmationsstunden bei Pfarrer Frankendorfer fielen für uns in das
letzte Kriegsjahr. Trotzdem habe ich in dieser ernsten Zeit viel
Lustiges erlebt. So saßen wir bei den älteren Konfirmanden unter den
Schulbänken und amüsierten uns über ihre Streiche. Mit der
Konfirmation Ostern 1946 war dann die Kinderzeit zu Ende. Mit der
Lehre begann für uns ein neuer Lebensabschnitt. Mit etwa 16 Jahren
ging das frohe Jugendleben auf dem Tanzboden los. Wir gingen
hauptsächlich in den nahen Gasthof Altoschatz, der Fritz Knorrn
gehörte. Trotzdem wir noch nicht 18 waren, gewährte er uns Einlass.
Vor der Polizeikontrolle suchten wir aber immer schnell das Weite. Erinnern
kann ich mich auch noch an das rege Vereinsleben und an die Feste in
der Gemeinde. Wir Jugendlichen organisierten uns in der
neugegründeten FDJ. Ich erinnere mich noch an das Deutschlandtreffen
1950 in Berlin, an dem wir Jugendlichen aus Kleinforst und
Altoschatz teilnahmen. Alleine die Fahrt in einem Güterwagen von
Oschatz bis nach Berlin war für uns ein großes Abenteuer. Vielleicht
merkt man an meinen Erinnerungen, dass ich den „Forscht“ nicht
vergessen habe. Ich hätte mir früher nicht vorstellen können, dass
ich das beschauliche Kleinforst einmal mit der lauten Großstadt
vertauschen werde. Jetzt ist Dresden schon über 48 Jahre mein zu
Hause. Aber einmal im Jahr zieht es mich wieder in den „Forscht“,
der seinen Reiz für mich
nicht verloren hat.
Käthe Lohse Die
Rassenschande
Meine Eltern hatten im Haus Nr.44 (Paul-Schuster-Straße 7) einen
kleinen Laden eingerichtet. Mein Vater Alfred Krell war
Steinarbeiter und meine Mutter verdiente sich durch den Handel etwas
dazu. Sie verkaufte Getränke und Tabakwaren. Ich
erinnere mich noch an ein besonderes Erlebnis aus dem Jahre 1935. Es war ein
Sonntag, es gab gerade mein Leibgericht zu Mittag: Nudeln mit
Hühnerfleisch. Als wir zu essen anfingen, kam Schutzmann Schulze
plötzlich an die Tür. Er stammte aus Oschatz, war aber auch für
Kleinforst zuständig und hieß bei uns wegen seiner Statur nur „der
dicke Schulze“. Die Eltern baten ihn herein und mir blieb das Essen
fast im Halse stecken. „Sie haben am Sonntag Bier verkauft, wurde
uns angezeigt. Das ist verboten und wird bestraft“. Die Mutter war
sogleich gefasst und sagte: „Es war bestellt und wurde nur
abgeholt“. Daraufhin erkundigte sich der Schutzmann bei den
Bierkunden und diese bestätigten auch zum Glück, dass es so war. So
sah er von einer Anzeige ab. Aber ganz
ungeschoren kamen wir trotzdem nicht davon. Meine Mutter hatte am
Ofen einen Korb mit einem kleinen Zicklein stehen, das erst einen
Tag alt war. Es lag unter einer Decke und hatte es schön warm.
Nichtsahnend zeigte es meine Mutter dem Polizisten. Der aber wollte
es nun genau wissen und fragte, wie das Muttertier ausgesehen hätte.
Meine Mutter sagte: „Rehbraun mit Hörnern“. Darauf der Polizist: „Und warum ist
das ein weißes Zicklein?“. „Der Bock aus der Burgstraße war weiß“, antwortete mein
Vater. „Das ist Rassenschande und steht unter Strafe und wird mit
einem Bußgeld von 7,50 Reichsmark belegt“, erwiderte darauf der
Polizist. Wir waren alle fassungslos, das war doch eine Menge Geld! Ich war zu
dieser Zeit 10 Jahre alt und bekam von meinen Eltern den Auftrag,
die Strafe im Gerichtsgebäude zu bezahlen. Als ich dort gefragt
wurde, was ich denn wollte, sagte ich: „Strafe bezahlen, weil die
braune Ziege zum weißen Bock geführt wurde“. Da konnte sich der
Beamte das Lachen nicht verkneifen, aber bezahlen musste ich
trotzdem!
Hedwig Teumer Das
Kriegsende und die Nachkriegszeit in Kleinforst
Ich war in den
letzten Kriegsmonaten in Elstertrebnitz als Lehrerin tätig. Das Dorf
lag bei Pegau im Kreis Borna. Ich wohnte bei einer alten Dame und
hatte 2 Zimmer, die mit einem eisernen Kanonenofen beheizt wurden. In dieser Zeit,
es war Februar / März 1945, wurde unsere Region stark bombardiert.
Ich erinnere mich an einen Angriff, den wir im Keller des Hauses
erlebten und wo die Bomben über uns hinweg brausten. Am Morgen
stellte sich heraus, dass sie auf das Feld nebenan gefallen waren.
Unser Dorf lag nur wenige Kilometer von Profen entfernt, das oft
angegriffen wurde. Um diese Zeit wurde auch Leipzig ständig
bombardiert. Dann hieß es, der Bahnhof in Pegau wäre stark zerstört
worden. Das bedeutete für mich, dass mein Heimweg nach Oschatz
abgeschnitten war. Auf dem Gut
hörten wir jeden Abend ganz leise „Radio London“. Damit verfolgten
wir den Vormarsch der US-Streitkräfte, die schon bis Thüringen
vorgerückt waren. Vom Osten kamen die Russen immer näher. Unser
Direktor hatte uns gerade wieder einmal erklärt, dass wir
Panzerfäuste erhalten sollten, um damit die Rote Armee aufzuhalten.
Auf Grund dieser Umstände entschloss ich mich Mitte März, meinen
Heimweg nach Oschatz anzutreten. An einem Wochenende machte ich mich
um 4 Uhr früh mit dem Fahrrad auf den Weg nach Groitzsch. In diesen
frühen Morgenstunden war am wenigsten mit Alarm zu rechnen. Ich
trank in Groitzsch bei einer Kollegin noch Kaffee und fuhr dann
weiter in Richtung Borna. In Neukieritzsch kam ich in den ersten
Alarm. Ich musste mit
anderen Leuten die Straße verlassen und in einem Bergwerksstollen
Schutz suchen. Nach der Entwarnung fuhr ich nach Borna weiter.
Wieder Alarm! Tiefflieger kamen und ich warf mein Fahrrad in den
Straßengraben und legte mich dazu. Als die Tiefflieger vorbei waren,
fuhr ich durch einen Wald weiter nach Bad Lausick. Hier hatte ich
eine Kameradin, bei der ich übernachten konnte. Um 3 Uhr früh wieder
Alarm! Ich zog mich mit den Hausbewohnern in den Keller zurück und
wartete den Angriff ab. Es fielen viele Bomben. Um 6 Uhr brach ich
dann in Richtung Oschatz auf und kam so gegen 9 Uhr in Kleinforst
an. Von nun an gab es für mich keine Möglichkeit mehr, nach Pegau
zurückzukehren. So erlebte ich das Kriegsende in Kleinforst. Hier waren auch
schon viele Menschen aus den Ostgebieten einquartiert, jedes Haus
war voll belegt. Bei uns lebte meine Tante aus Berlin, die sich vor
den heftigen Bombenangriffen in Sicherheit gebracht hatte. Ich
selbst war krank geworden und hatte damit einen Grund, dass ich
nicht in die Schule auf Arbeit gehen musste. Um diese Zeit
erhielten wir auch eine Sonderzuteilung an Lebensmitteln. Der
Bürgermeister Kottwitz ließ diese aus dem Oschatzer
Heeresproviantlager von Altoschatzer Bauern mit Pferdefuhrwerken
holen und lagerte sie in der Turnhalle Altoschatz ein. Jede Familie
bekam pro Person 10 Fleisch- bzw. Wurstbüchsen pro Person und wir
holten diese mit dem Handwagen nach Hause. Das war natürlich eine
feine Sache, wir hatten aber Angst, dass diese später wieder
beschlagnahmt würden. Deshalb schaufelten wir im Stall etwas
Rohbraunkohle beiseite und versteckten die Büchsen darunter. Eines Tages kam
die Kunde, dass im Gut Saalhausen die Vorräte an Schnaps aus der
Brennerei verteilt würden. Mein Vater machte sich mit einer großen
Steingutflasche auf den Weg und brachte diese voll wieder mit nach
Hause. Wir haben dann die Flasche sicherheitshalber im Garten
vergraben. Unser Silberbesteck brachten wir im Hühnerzwinger in
Sicherheit Inzwischen war
Mitte April geworden. Sowohl die Russen als auch die Amerikaner
näherten sich immer mehr der Elbe. Eines Tages war Fliegeralarm. Es
war gerade Mittagszeit. Wir gingen mit unserem Essen in den Keller
und beobachteten durch das Fenster, wie Tiefflieger unsere Flugzeuge beschossen,
die auf dem Flugplatz abgestellt waren. Dann kam das
Gerücht auf, die Russen wären bereits in Strehla. Am 27. April hieß
es, die Amerikaner sind in Oschatz und es würden überall weiße
Fahnen heraushängen. Diese Nachricht bestätigte sich auch. Mit dem Einzug
der Amerikaner waren alle Kriegsgefangenen frei. Wir merkten
zunächst nicht viel davon, aber am 28. April wurden die Speicher des
Heeresproviantamtes am Oschatzer Bahnhof von den Kriegsgefangenen
geplündert. Auch viele Oschatzer und einige Kleinforster fuhren mit
dem Handwagen los, um sich etwas zu holen. Sie brachten vor allem
Käse und Rohzucker mit nach Hause. Den Käse musste man mit Wasser
anrühren, er schmeckte aber sehr gut. Am nächsten Tag
waren die Speicher vollkommen ausgeräumt. Wie es hieß, war bei den
Plünderungen ein Mann von einer Kiste erschlagen worden, die aus
einem der oberen Stockwerke heruntergeworfen wurde. In der gleichen
Zeit plünderten die Leute auch die Kasernen und Wohnhäuser auf dem
Flugplatz. Ich selbst fuhr auch mit einem Handwagen los und holte
Holz von Türen, die eingeschlagen wurden. Wir hatten dadurch lange
Zeit einen kleinen Vorrat zum Heizen. Manche Leute brachten aus den
Offizierswohnhäusern auch Teppiche und Schreibtische mit. Um diese
Zeit gab es auch überall Fallschirmseide. Einmal gab es diese als
Stoff und zum anderen als Garn. Auch ich hatte ein blau gefärbtes
Kleid, das mit weißer Fallschirmseide bestickt war. Am 5. Mai zog
dann die Rote Armee in Oschatz ein und am 6. Mai gegen Mittag kamen
die Russen auch nach Kleinforst. In jedem Haus quartierten sich die
Soldaten ein. Bei uns wohnten 3 Offiziere und ein Bursche. Die
Offiziere versuchten, Radio Moskau zu finden, aber es gelang nicht,
der Apparat war zu schwach. Dann ergab sich
eine schöne Episode: Der Bursche in unserem Haus wollte im ersten
Stock fegen. Er fand einen Besen und fragte meine Mutter: „Der
Bessen, das Bessen, oder die Bessen?“ Meine Mutter war vollkommen verwirrt und sagte: „Das Bessen.“
Nun ging der Bursche die Treppe hinauf und wiederholte immer wieder:
„Das Bessen, das Bessen, das Bessen“ usw. So ging der
Nachmittag dahin. Der Bursche suchte in unserem Garten Zwiebeln. An
der Ecke stand nämlich die Gulaschkanone. Es war vielleicht ½ 6 Uhr
abends, da kam der Bursche angerannt, brachte einen Topf voll
Borschtsch und sagte: „Schnell alle fort“ und zeigte in Richtung
Süden, „dort Wehrwolf“. Es gab anscheinend im Süden Sachsens noch
kämpfende Einheiten. Die Mannschaft hatte nicht einmal mehr Zeit,
ihre Krautsuppe aus der Gulaschkanone zu essen. Auf diese Weise ging
es ganz schnell und die Rote Armee war wieder aus Kleinforst
verschwunden. Es gab erst einmal ein großes Aufatmen. Nur ein Panzer
stand noch bei Webers am Stadtpark auf der Straße, er war wegen
eines Schadens liegengeblieben und wurde von ein paar Soldaten
bewacht.
Das Kriegsende
war für uns alle eine unvorstellbare Erleichterung und Freude. Herr
Kürsten und Herr Keßner gingen mit der Ziehharmonika auf die Straße.
Dabei haben auch einige Frauen, die dort wohnten, auf der Straße
getanzt. Aber die unruhige Zeit hielt an. Die Kriegsgefangenen und
Zwangsarbeiter, die bei den Bauern auf dem Lande oder in den
Betrieben gearbeitet hatten, waren frei. Sie machten sich zu Fuß auf
den Weg nach Hause. Es hieß, diese Menschen hätten 3 Tage
Plünderungsfreiheit. Sie verlangten hauptsächlich Uhren und
Fahrräder. Eines Tages war
ich im Garten und hörte ein ziemliches Stimmengewirr im Haus der
Familie Quitzsch. Dort wohnte die Familie Winkler. Wie sich bald
herausstellte, war die Tochter der Familie erschossen worden. Sie
war über die Schwedenschanzen gegangen, um ihren Freund zu treffen.
Man erzählte sich später, ein Russe hätte sie erschossen, weil er
sie für den Bauer Kühne gehalten hatte. Doch der war gar nicht mehr
im Ort. Dann hieß es
auf einmal, morgen würden alle Frauen abgeholt! So machten wir uns auf den
Weg und versteckten uns auf dem Kreischaer Berg. Es passierte aber
nichts und wir gingen abends wieder heim. Ein neues
Unheil schien sich anzubahnen, als ich früh durch laute Geräusche
geweckt wurde. Ich sprang aus dem Bett und schaute zum Fenster
hinaus. Ein Russe oder Pole wollte mit einem Panjewagen in unser
Grundstück fahren, kam aber nicht durch das Tor. So fuhr er bei
März´ens in den Hof. Zum
Glück hat er niemanden belästigt, er saß den ganzen Tag auf den
Stufen und spielte auf einer Ziehharmonika. Auch bei Johns stand ein
Panjewagen im Grundstück und das Pferd graste im Garten. In dieser
unruhigen Zeit, so wurde erzählt, schliefen die jungen Mädchen , die
weiter oben wohnten, bei Lohses im Heuschuppen. Gleich nach
Kriegsende war auch der Berggutsbesitzer Kästner verschwunden, er
soll sich bei seinem Hofmeister Barth versteckt gehalten haben. Sein
Land fiel später unter die Bodenreform und wurde aufgeteilt. Die
Bevölkerung wurde aufgerufen, in der Landwirtschaft mitzuarbeiten,
z. B. bei der Rübenpflege und bei der Einbringung der Ernte. Auf den
Feldern wurde jedes Korn geborgen. Wenn ein Getreidefeld abgeerntet
wurde, warteten schon die Frauen am Feldrand. Auf ein Zeichen des
Bauern strömten sie alle auf die abgeerntete Fläche zum Ährenlesen.
In Kleinforst hatte jedes Haus Hühner, da wurden die Körner zum
Füttern gebraucht. Es gab aber auch Leute, die die Ähren selbst mit
dem Dreschflegel ausdroschen und die Körner in der Mühle gegen ein
bisschen Weizenmehl eintauschten. Nach der
Getreideernte kam die Kartoffelernte. Damit begann das
Kartoffelstoppeln. Aber auch
Zuckerrüben waren sehr begehrt. Sie wurden geschnitzelt, gekocht und
ausgepresst. Der Saft wurde dann im Waschkessel so lange gekocht,
bis er eingedickt war. Für meinen Onkel aus Berlin waren die auf der
Herdplatte gerösteten Brotscheiben, die mit Rübensirup bestrichen
wurden, eine Köstlichkeit! So war jeder
damit beschäftigt, sich etwas Zusätzliches zum Essen zu beschaffen.
Was es auf Lebensmittelkarten gab, war zu wenig. Jedes Stück Land
wurde damals für die Ernährung gebraucht. Bereits 1945/46 wurden auf
der Halde hinter den Siedlungshäusern in der heutigen
Paul-Schuster-Straße Flächen vergeben, auf denen man sich einen
Garten anlegen konnte. Dieses Angebot nutzten vor allem die
Flüchtlingsfamilien. Nach dem Krieg
begann auch die Zeit des Stöckerodens. In den umliegenden Wäldern und auch am Stranggraben
wurden Bäume gefällt und die Bevölkerung durfte danach die Wurzeln
roden. Das Holz wurde meist mit dem Handwagen nach Hause gefahren.
Oft kam es dabei vor, dass das überladene Fuhrwerk auf dem
Nachhauseweg zusammenbrach! Das allgemeine
Leben wurde in der ersten Zeit nach dem Krieg durch die sowjetische
Militäradministration (SMA) geregelt. Sie befasste sich auch mit den
Kindern, die noch kein richtiges Zuhause hatten und auf der Straße
herumlungerten. So gab es einen Befehl, die Kinder in Ferienlagern
bei Sport und Spiel zu beschäftigen. Danach wurde der Schulbeginn
vorbereitet. Es gab eine Entnazifizierungskommission, die festlegte,
welche Lehrer weiter unterrichten dürfen. Das waren vor allem die
jungen Lehrer. Ihnen wurde die Parteimitgliedschaft nicht zur Last
gelegt. Alle anderen Lehrer wurden entlassen. Für sie kamen die
sogenannten Neulehrer in den Dienst. Diese waren im Schnellverfahren
in Dahlen ausgebildet worden und gingen ihre neue Aufgabe mit Elan
an. Für sie gab es in den Ferien in der Erich-Vogel-Schule
Weiterbildungsmaßnahmen. Trotz großer Kälte kamen damals die
Kollegen von Hohenwussen zu Fuß nach Oschatz! Ich fing als
Lehrer zunächst in der Erich-Vogel-Schule an und übernahm dann
später als Schulleiterin die Schule in Altoschatz. Der
Schulunterricht wurde durch die sowjetische Kommandantur
kontrolliert. Es gab dafür extra einen Bildungsoffizier, er hieß
Konkow. Er besuchte auch die Altoschatzer Schule und nahm am
Unterricht teil. In der Auswertung beanstandete er, dass sich ein
Lehrer während des Unterrichtes ein bisschen auf das Pult gesetzt
hatte. Wir hatten nach
dem Kriege sehr kalte Winter und die Schule konnte wegen der knappen
Brennstoffe nicht mehr geheizt werden. In dieser Zeit gab es keinen
Unterricht, den Kindern wurden nur Hausaufgaben erteilt. Sie mussten
diese jeden Tag in der Schule vorzeigen und bekamen wieder neue
Aufgaben mit nach Hause. Kurz nach
Kriegsende wurde für alle Kinder die Schulspeisung eingeführt. Es
gab Roggenbrötchen und ein Glas Milch dazu. Bei uns in Altoschatz
wurden die Brötchen aufgeschnitten und mit Marmelade bestrichen,
dann schmeckten sie natürlich etwas besser. Wir machten das alles im
Lehrerzimmer.
Ein Nachtrag zu
dem Bericht von Frau Teumer:
Unter dem Titel
„Menschen, Schicksale, Erinnerungen“ wurde 1995 in der OAZ ein
Bericht von Frau Gretel Schubert aus Mügeln veröffentlicht, der den
vorstehenden Beitrag von Frau Hedwig Teumer sehr gut ergänzt. Frau
Schubert war in einem Oschatzer Betrieb dienstverpflichtet.
„Es war der 15. oder 16. April 1945 an einem Vormittag. Wir
bekamen die Durchsage für den Raum Oschatz: Fliegeralarm - die Stadt
Oschatz wird beschossen. Wer sich noch nach Hause durchschlagen
kann, soll gehen. Wir schnappten unsere Fahrräder. Eine Kollegin und
ich radelten los in Richtung Weinberg. Wir hatten Glück, die
Panzersperre war noch nicht geschlossen, so daß wir raus konnten
nach Mügeln. Doch wir hörten schon das Gebrumm der Tiefflieger. So
sind wir schnell nach Altoschatz runter gefahren. Der Zug Oschatz -
Mügeln 10.30 Uhr hielt da noch. Unvergessen für mich bleibt, daß der
Lokführer fragte, ob wir mitfahren wollten. Es sollte nur eine kurze
Fahrt werden. Gleich hinter Thalheim kamen sie, die berüchtigten
Tommys und griffen den Zug an. Von beiden Seiten erfolgte
Tieffliegerbeschuß. Eine Salve, ein Krachen und der Zug stand. Der
Beschuß dauerte so lange, bis sich niemand mehr rührte. Wir hatten
großes Glück, da wir gleich am Anfang aus dem Gepäckwagen flüchteten
und über die Wiese rannten. Hinter Bäumen versteckt, konnten wir das
schlimme Schauspiel Anflug und Beschuß beobachten. In das kleine
Gehölz Thalheim hatten sich noch ein paar Reisende gerettet. Wenig
später kamen Sanitäter. Sie versorgten die Verwundeten, der
Lokführer war tot. Erst nach Stunden, am Nachmittag, sind wir auf
Schleichwegen über die Dörfer zu Hause angekommen". Nach einem
Bericht in der OAZ vom 18. Mai 2004 soll es am 26. April 1945 dann
noch einmal einen Tieffliegerangriff auf die Kleinbahn zwischen
Naundorf und Schweta gegeben haben. Den Anwohnern soll sich auch
dort ein Bild des Grauens mit toten Menschen und zerstörten Wagen
geboten haben. Nachdem im
Laufe des 23. April die in Oschatz stationierten Wehrmachtseinheiten
und Teile der Polizei die Stadt in Richtung Döbeln und Freiberg
verlassen hatten, war Oschatz praktisch ohne Verteidigung. In der
Nacht zum 24. April wurde der Befehl ausgegeben, dass Frauen und
Kinder die Stadt sofort zu verlassen haben. In langen Zügen
flüchtete ein großer Teil der Einwohner in Richtung Wermsdorf und
Mügeln. In Kleinforst war das anders, da verließ keiner die
Siedlung. Wie Frau Kohnen weiß, hatten aber einige Familien
sicherheitshalber den Handwagen schon gepackt, wie z. B. ihr Nachbar
Paul Pötzsch aus der 52 (Querstraße 2). Die Angst vor einen Beschuss
und vor den Russen war damals sehr groß. Frau Teumer
erwähnte in ihrem Bericht auch die Beschaffung des Heizmaterials.
Einige Aktionen sind im Gemeindebuch von Altoschatz festgehalten.
Sie beginnen im November 1946. Der Gemeindeverordnetenvorsteher
Alber stellte damals in Aussicht, dass in den nächsten Tagen mit dem
Sprengen der Stöcke begonnen würde. Man brauchte sie also nicht von
Grund auf zu roden, das war eine riesengroße Arbeitserleichterung. Im September
1947 wurden der Gemeinde vom Sächsischen Forstamt Hubertusburg
wieder Stöcke zugewiesen. Auch diese sollten gesprengt werden. Die
FDJ, die Gemeindearbeiter und die Bevölkerung sollten am 21.
September die Stücke zusammenlesen und aufladen. Die Gemeinde
organisierte den Transport mit Pferdewagen und übernahm auch die
Verteilung. Im Januar 1948
war es der Gemeindeverwaltung nicht nur gelungen, Stockholz zu
beschaffen, auch Rohbraunkohle konnte verteilt werden. Jeder
Haushalt erhielt einen halben Zentner. Im Mai 1948
erhielt die Gemeinde Stockholz aus dem Revier Collm. Diesmal wurden
Parzellen an die einzelnen Einwohner vergeben. Jeder musste nun
selbst das Roden der Stöcke übernehmen und auch den Transport. Wir können uns
die Schwere der Arbeit heute kaum noch richtig vorstellen. Zunächst
die weite Anfahrt mit dem Handwagen. Dann musste der Baumstumpf erst
einmal mit Spaten und Spitzhacke freigelegt werden. Mit Eisenkeilen
und Axt wurde dann das Holz gespalten. Hungrig und kraftlos wird
sich mancher mit der schweren Fuhre nach Hause geschleppt haben. Zum
Glück gab es damals einen Unternehmer mit einer fahrbaren Kreissäge,
der auch nach Kleinforst kam und das stärkere Holz gegen ein Entgelt
zersägte. Auch über das
Ährenlesen und Kartoffelstoppeln erzählte Frau Teumer in ihrer
Geschichte. Nach dem Krieg war der Hunger groß. So gab es auch
Einwohner, die sich unerlaubt etwas Essbares von den Feldern holten.
Um diesen Diebstahl zu unterbinden, wurde unmittelbar nach dem Krieg
von der Gemeinde Altoschatz ein Flurschutz eingerichtet. Im Oktober
1945 stellte Bürgermeister März die Einwohner Fritz Lässig und
Walter Riedel als Notpolizisten ein. Sie sollten abwechselnd den
Tages- und Nachtdienst übernehmen. Als Verstärkung bekamen sie noch
jeweils 3 x 2 Mann aus der Gemeinde dazu. Diese schlagkräftige
Mannschaft sollte vor allem erst einmal die Zuckerrübendiebstähle an
der Kleinbahnhaltestelle in Altoschatz/Rosenthal verhindern Der Flurschutz
wurde in den darauffolgenden Jahren fortgesetzt. Dazu gab es auch
eine klare Anweisung des Kreisrates. Die Gemeinde legte für 1947
fest, dass jeden Tag 20 Mann zur Sicherung der Ernte ausschwärmen
sollten. Es wurden 4 Trupps zu je 5 Mann gebildet. Alle Männer im
Alter von 18 bis 55 Jahren konnten zu diesem Dienst herangezogen
werden. Diese Tätigkeit wurde auch bezahlt. Im Jahre 1948
begann der Flurschutz am 25. April und ging bis Ende November. Dazu
waren insgesamt 6 Männer, nämlich 4 aus Altoschatz und 2 aus
Thalheim, im Einsatz. Warum keine Kleinforster dabei waren, ist
nicht bekannt. Alle Männer im Alter zwischen 18 und 55 Jahren hatten
zur Finanzierung der Aktion monatlich 1 RM zu zahlen. Den Rest
mussten die Landbesitzer begleichen. Auch im Jahre
1949 setzte sich diese Aktion fort. Diesmal wurde im Gemeindebuch
ausführlicher darauf eingegangen:
„Obwohl sich die wirtschaftlichen Verhältnisse spürbar
verbessert haben, muß mit Rücksicht auf die Sicherung der Ernährung
der Bevölkerung die von Seiten der Landesregierung und des
Kreisrates angeordnete Einführung des Flurschutzes durchgeführt
werden. Mit Rücksicht auf die allgemeine angespannte Finanzlage kann
ein bezahlter Flurschutz nicht eingeführt werden, sondern man müsse
zur sogenannten Reihenwache übergehen, wonach alle männlichen
Personen im Alter von 18 bis 60 Jahren verpflichtet sind, sich daran
zu beteiligen. Außerdem wird als besoldeter Flurschützer Herr
Johannes Heinig eingesetzt.“
Trotz der recht
umfangreichen Maßnahmen kam es immer wieder zu Diebstählen. Wer
dabei erwischt wurde, hatte sofort ein Gerichtsverfahren am Hals und
musste mit einer hohen Strafe rechnen. Die Leipziger Volkszeitung
berichtete z. B. am 25. August 1948, dass sich 16 Männer, Frauen und
Jugendliche wegen des Vergehens gegen die Ernteschutzverordnung vor
dem Oschatzer Schnellgericht zu verantworten hatten. Und am 2.
September stehen schon wieder neun Felddiebe vor dem hohen Gericht.
Mit dem Strafmaß war man damals nicht kleinlich. Für 5 Kilo Schoten
vom Feld gab es 2 Wochen Gefängnis, für 40 Pfund Möhren und
Beerenobst aus einem Garten 3 Monate! Auch für den Hunger gab es im
Strafmaß kein Erbarmen: „Charlotte Biedermann aus Oschatz konnte an
einem Mohnfeld nicht vorübergehen, ohne sich ein Säckchen Mohn
mitzunehmen. Ihre Notlage wurde berücksichtigt, so daß sie eine
Woche Gefängnis erhielt.“ Um die
Ernährungssituation in dieser Zeit etwas deutlicher zu machen, soll
abschließend noch ein Bericht des Ernährungsausschusses der Gemeinde
Altoschatz vom Januar 1948 folgen: „Die Aufgaben des Ausschusses waren sehr schwierig. Herr
Lehmann dankte allen Bauern, die ihr Ablieferungssoll trotz
schlechter Ernte 100 % erfüllt haben. Ferner erteilte er denen eine Rüge, die
unverantwortlich gehandelt haben und Kartoffeln versteckten. Trotz
der durchgeführten Kontrollen war es nicht möglich, die gesamte
Bevölkerung mit Einkellerungskartoffeln zu versorgen. So war es
notwendig, daß von der SMA der Befehl 248 herausgegeben werden
mußte, auf Grund dessen die landwirtschaftlichen Erzeugnisse restlos
abgeliefert werden mußten, so auch die Saatkartoffeln. Um jedoch die
künftige Saat sicherzustellen, sind mit Mecklenburg Verhandlungen
aufgenommen worden, um im Austausch mit Vieh Saatkartoffeln zu
beschaffen. Die Tätigkeit des Ernährungsausschusses erstreckte sich
auch auf die Beseitigung des Schwarzhandels und der
Kompensationsgeschäfte.“
Frau Teumer
erwähnt in ihrem Bericht auch, dass nach Kriegsende von der
sowjetischen Militäradministration wichtige Entscheidungen durch
Anordnungen geregelt wurden. So mussten z. B. in den ersten Tagen
nach Kriegsende alle Radios abgeliefert werden. Aber erst nach
Jahren bekam man von der Deutschen Post wieder eine Genehmigung zum
Aufstellen und Betreiben eines Rundfunkempfängers. Die Familie Heinz
Kohnen z. B. erhielt diese erst 1948 und auch nur zum Kauf eines
sogenannten Drahtfunkempfängers. Diese Geräte waren nur für den
Empfang von 2 festeingestellten Sendern eingerichtet und hatten
deshalb auch nur 2 Tasten zum Umschalten von Mittelwelle Leipzig auf
Langwelle Königswusterhausen. Mehr Information war damals in der
sowjetischen Besatzungszone nicht erwünscht und „Schwarzhören“ war
strafbar!
Manfred Hennig Kleinforst in den letzten Monaten des Krieges und die Nachkriegszeit
1944 und 1945
wurden immer mehr Jugendliche zum Kriegsdienst eingezogen. Die
Geburtenjahrgänge 1928 und 1929 wurden die sogenannten
Kampfreserven, die zum Reichsarbeitsdienst und in
Wehrertüchtigungslager einrücken mussten. Diese jungen Leute waren
damals zwischen 15 und 16 Jahre alt und standen noch in der Lehre.
Da denkt man heute noch mit Entsetzen darüber nach. Auch für uns
Jüngere wurde der Dienst im Jungvolk immer härter. Zum Programm
gehörte jetzt auch das Schießen mit dem KK-Gewehr. Ich erinnere mich
auch noch daran, dass wir Pfingsten 1944 nach Meißen und zurück
marschieren mussten. Da waren wir vom Jahrgang1932 gerade einmal 12
Jahre alt! Weil die
Bombenangriffe der Alliierten auf die Großstädte und
Industriegebiete immer häufiger wurden, nahm auch die Angst in
Kleinforst immer mehr zu, denn Oschatz war eine nicht unbedeutende
Garnisonsstadt des Heeres und der Luftwaffe. Würden uns auch eines
Tages die Bomben treffen? Die Häufigkeit des Fliegeralarms nahm zu
und die vorgeschriebenen Luftschutzmaßnahmen mussten strengstens
eingehalten werden. Bei Dunkelheit wurde vom Luftschutz die
Verdunkelung der Fenster genau kontrolliert. Auch wir
Jugendlichen wurden für die Arbeiten im Luftschutz mit eingesetzt.
Die Organisation des Luftschutzes lag in den Händen eines
Luftschutzwartes. Auf den Feldern des Berggutes in Richtung Naundorf
und rings um Oschatz herum wurden Schützengräben für den
Verteidigungsfall ausgehoben. Die Situation war angespannt. Eines Tages
waren sie dann plötzlich da, die Jagdbomber der Amerikaner und
Engländer. Sie knöpften sich zielgerichtet die
Messerschmidt-Jagdflugzeuge auf dem Fliegerhorst vor und zerschossen
diese im Tiefflug zur Unbrauchbarkeit. Keine Maschine geriet dabei
in Brand, da sie alle unbetankt waren. Dieser Angriff fand am
helllichten Tage statt und wir konnten das Spektakel aus der Ferne
beobachten. In den letzten
Apriltagen 1945 tauchten dann Jeeps mit amerikanischen Soldaten auf.
Die Verteidiger aus den Schützengräben waren längst verschwunden.
Die hauptsächlichste Amtshandlung der Amerikaner in der Gemeinde
Altoschatz bestand darin, die Abgabe von Waffen und Munition zu
überwachen. Dazu gehörten auch die Fahrtenmesser des Jungvolkes. Um
nicht unangenehm aufzufallen, schlugen wir zuvor die Rune aus dem
Handgriff heraus. Am 7. Mai 1945
hieß es dann, die Russen kommen. Mit mehreren
Einspänner-Pferdewagen, den typisch russischen Panjewagen, bezog
eine Einheit Rotarmisten Quartier in Kleinforst. An meine erste
Begegnung mit den Russen erinnere ich mich noch genau. Ich lag
gerade im Bett, als mir zwei Soldaten lächelnd die Hand reichten.
Ich zitterte vor Angst. Bei uns zu
Hause machten die Russen die Wohnküche zur Friseurstube. Ein
Panjewagen mit dem Sergeanten quartierte sich bei Minna und Otto
Küttner ein (Paul-Schuster-Straße 12). Gut, dass beide durch ihre
Arbeit auf dem Postgut Oschatz schon Erfahrungen mit russischen
Soldaten gemacht hatten, die dort als Kriegsgefangene arbeiten
mussten. Dadurch kannten sie deren Mentalität. Minna Küttner war
eine resolute Person, die sich Respekt verschaffen konnte. Ihr ist
es sicherlich mit zu verdanken, dass es zu keinen Übergriffen kam. Eine
Respektsperson war auch der Kommunist Fritz März. Der Kleinforster
hatte nach Kriegsende den Bürgermeisterposten übernommen. Er
leistete besonders Hilfe, als nach der Fronttruppe andere
Rotarmisten den Einwohnern an die Jacke wollten. Für sie war jeder
Deutsche erst einmal ein Faschist. Von den Lehrern
wurde März Fritze zu Hilfe gerufen, wenn von uns Achtklässlern die
Streiche und das große Maul zu happig wurden. Besonders die
Neulehrer hatten da ihre Probleme mit uns. In solchen Fällen musste
der Sünder meist vor die Tür des Klassenzimmers und dort bekam er
entweder eine Standpauke unter vier Augen oder die lockere Hand von
Fritz März zu spüren. Nach Kriegsende
wurde auch die Durchsetzung der Bodenreform in der Gemeinde
Altoschatz beschlossen. Als auf das Berggut gezogen wurde, um Herrn
Kästner seine Enteignung mitzuteilen, gab es eine sehr geteilte
Stimmung unter den Anwesenden. Nicht alle waren damit einverstanden
und es gab auch noch danach persönliche Meinungsverschiedenheiten über viele Jahre hinweg.
Rosemarie Pirl
„Reiche-Kuttel“
In den 30er
Jahren war das Haus Nr.1 unter dem Namen „Schreckensburg“ bekannt.
Mit dieser umgangssprachlichen Bezeichnung wurden die Zustände, die
sich im Haus abgespielt haben müssen, beim Namen genannt. Angeblich
soll es dort drunter und drüber gegangen sein. Einer der
Bewohner war „Reiche-Kuttel“, der sich sehr oft bei
„Schnapps-Lochmann“ in Oschatz einen hinter die Binde goss. Für den
Rückweg hatte er meistens noch einen „Flachmann“ in der Hosentasche,
dessen Inhalt er bis nach Hause auch noch ausgekuttelt hatte. In
solch einem Zustand stimmte er auch seine Sauf- und Wanderlieder an.
Man konnte ihn bereits hören, wenn er kurz vor Kleinforst am
Stadtparkweg auftauchte. Ich war damals noch Kind, aber eine Strophe
ist mir noch in Erinnerung geblieben:
„Du lieber Mond, wenn ich dich sehe, da hab ich meine Plage. Du bist im Jahr nur 12 mal voll Und ich bald alle Tage!“
Für uns
Kleinforster Kinder war das immer ein Heidenspaß, wenn
„Reiche-Kuttel besoffen auftauchte. Wir liefen neben ihm her und
amüsierten uns über ihn. Er ließ sich das alles gefallen, ohne böse
zu werden. Wenn er richtig voll war kam es auch schon einmal vor,
dass man ihn von der Straße auflesen musste.
Monika Kohnen
Die
verkannte Vogelscheuche
Neben uns,
im Haus Nr.44 (Paul-Schuster-Straße 7), wohnte die Familie Fuhrmann. Herr
Fuhrmann sah furchtbar schlecht. Meine Mutter hatte im Garten Erbsen
gesteckt und wegen der Vögel eine Vogelscheuche aufgestellt. Eines
schönen Tages, meine Mutter war gerade im Garten beschäftigt, kam
Herr Fuhrmann am Zaun entlanggelaufen. Er schaute immer wieder die
Vogelscheuche an und dann auf meine Mutter. Irgend etwas konnte er
gar nicht begreifen. Und dann sagte er plötzlich: „Frau Kohnen,
jetzt wo ich sie sehe, wird mir einiges klar. Ich habe sie jeden Tag
gegrüßt und mich gewundert, dass sie nicht danken. Ich dachte schon,
sie hätten etwas gegen mich. Jetzt sehe ich sie im Garten und
begreife, dass ich jedes mal ihre Vogelscheuche gegrüßt habe. Über diesen
Irrtum haben wir damals herzlich gelacht und mir geht es heute noch
so, wenn ich daran denke.
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