Beim Türmer von St. Ägidien
192 Stufen muss man hinaufsteigen, wenn man dem höchsten Manne von Oschatz, dem Türmer von St. Ägidien, einen Besuch abstatten will. Das ist für Leute, die an Atemnot leiden, nahezu eine sportliche Leistung. Zu Anfang geht es. Die Treppenstufen sind breit. Aber allmählich werden sie schmaler, und im letzten Drittel verengen sie sich zu einer steilen Spindel. Auf halber Höhe angelangt, hörten wir Schritte. Es war des Glockentürmers Töchterlein. Auf dem „Boden“, dem Verbindungsstücke der beiden Türme, hatte sie getrocknete Wäsche abgenommen. Von der Beschwerlichkeit des Lebens auf dem Turme bekamen wir einen leichten Vorgeschmack, als wir bereitwillig den Wäschekorb selbst erfassten und nun nach der Höhe balancierten. So waren wir ziemlich außer Atem, als wir durch eine Glastür in das kleine Reich des Türmers eintraten, von Hundegebell freudig begrüßt. Nicht minder freundlich begrüßte uns auch das Türmerehepaar, das bei dem diesigen, nebligen Wetter sicherlich keinen Besuch erwartet hatte. Beide sind im Sonntagsstaate und sitzen in ihren Polsterstühlen, der Vater Quietzsch gemütlich sein Pfeifchen rauchend. Man sieh den beiden keinesfalls an, dass sie die 80 längst überschritten haben. Bald sind wir in der schönsten Unterhaltung, während mein Begleiter schnell noch ein paar Innen- und Außenaufnahmen macht. Seit dem 01.10.1899 regiert Vater Quietzsch auf dem Turme. Er löste damals die Türmerfamilie Aselt ab, die hier in zwei Generationen Dienst verrichtet hatte. Mir fünf Kindern zog Vater Quietzsch herauf. Und da Freund Adebar hierher nicht einen so weiten Weg hatte wie zu den Leuten unten in der Stadt, legte er den Türmersleuten noch neunmal ain Kindlein in die luftige Wiege. Bei dieser stattichen Kinderzahl mag sich das Türmergehalt als zu schmal erwiesen haben, so dass Vater Quietzsch in seiner freien Zeit noch dem Schuhmacherberuf nachging. Nicht leicht war es in früherer Zeit, das Türmeramt zu bekleiden und es vor allem pünktlich auszuführen.. Bis zum Jahre 1922 musste der Türmer, da die Stadtkirche keine Turmuhr hatte, nach dem Schlagen der Rathausuhr Tag und Nacht die vollen Stunden anschlagen, was mit Hilfe einer Hebelvorrichtung von der Wohnung aus geschah.. Dazu war in der Nacht allviertelstündlich eine Runde um den Turm zu machen, denn der Türmer war zugleich der Feuerwächter für Oschatz und die nähere Umgebung. Bei einem Brande wurde sofort die Polizeiwache, die sich damals im Untergeschosse des Rathauses befand, telefonisch verständigt,. Nach der Richtung, in der der Brandherd lag, wurde bei Tage eine rote Fahne, bei Nacht eine rote Laterne herausgehängt und die kleine Feuerglocke in Bewegung gesetzt. Seit 1921 ist der Türmer von diesem Dienste durch die Verbesserung der Technik der Feuermeldung entbunden. Eine Sirene bewirkt das Anzeigen des Feuers schneller und nachdrücklicher. So besteht die Arbeit des Türmers nur noch im Läuten der Glocken um 7, 12 und 19 Uhr und bei Begräbnissen. Alle Errungenschaften der neuen Zeit finden wir auch in der Türmerwohnung. Selbstverständlich gibt es elektrisches Licht, und auch ein Radio fehlt nicht. Aber schlimm war es mit der Wasserbeschaffung, ehe der neue Wasserturm gebaut wurde (1910). Es musste von unten am Markte geholt and dann mühsam die vielen Stufen heraufgetragen werden. Den Versuch, mittels einer Winde einen 6-8 Liter fassenden Wasserbottich am Turmehinaufziziehen, gab man bald wieder auf.
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Es war schon bei leichtem Winde ein wenig nützliches Unternehmen, da der Bottich wie das Pendel einer Uhr nach links und rechts ausschlug, wobei ein großer Teil des Wassers verlorenging. Und doch brauchte man es bei großen Kinderschar so nötig. Ja, manchmal gibt es Tage, wo es wenig beneidenswert ist, so „hochgeboren“ zu sein. Ob es nicht ein wenig zum Fürchten ist, wenn die Windsbraut um die Turmfenster heult und die Hängelampe inmitten des Zimmers in Schwingung gerät! Und erst bei Gewitter! Vater Quietzsch wusste von einem fast zwei Stunden andauernden, besonders schlimmen Gewitter aus den ersten Jahren seiner Tätigkeit zu erzählen, wo es wiederholt in der Stadt und auch auf dem Turme einschlug. „Es roch hier oben nach lauter Schwefel. Und als das Gewitter endlich vorüber war, schallten bange Rufe vom Kirchplatze herauf, ob wir denn überhaupt noch lebten. Aber es war nichts passiert!“ Doch werden die schlimmen Tage wohl voll aufgewogen durch die vielen schönen Tage. Man kan herabsehen auf die winzigen Menschlein. Man kann seinen Blick in die Nähe und in die Ferne schweifen lassen, wenn der Frühling siegreich die Macht des Winters gebrochen hat, wenn im Sommer die Felder weitumher die Früchte bäuerlichen Fleißes tragen, wenn der Herbst als der große Künstler seine bunte Palette gebraucht und der Winter Bilder märchenhafter Schönheit hervorzaubert. über Mangel an Besuch können sich die Türmersleute nicht beklagen. Schade, dass kein Gästebuch geführt wird; es würde in den 57 Jahren schon viele Bände stark geworden sein! Mit Stolz berichtet der Türmer. dass sogar schon Japaner und Chinesen bei ihm ihre Visitenkarte abgegeben haben. Zu den ständigen Besuchern gehören die Turmbläser. Bis zum Jahr 1950 wurde auf Grund einer kirchlichen Stiftung jeden Mittwoch 10 Uhr und jeden Sonnabend 19 Uhr vom Turme geblasen. Ausführende waren Bläser des Oschatzer Stadtmusikkorps. Seit 1950 hat diese alte, schöne Sitte der kirchliche Posaunenchor übernommen, der außer allsonnabedlich auch noch zu bestimmten Festzeiten seine Weisen nach Osten, Süden und Westen ertönen lässt. Wäre schönes Wetter gewesen, hätten wir darum gebeten., einmal bis zur zweiten Galerie hinaufzusteigen. Aber es lohnet sich heute wirklich nicht. So schauen wir nur noch einmal hinüber nach dem unbewohnten Nachbarturme. Erst in der Nähe erkennen wir die Feinheiten der gotischen Architektonik Meister Heideloffs, des Erbauers unserer Kirche, die von Fremden immer bewundernd als „Dom“ bezeichnet wird. Ein Volk von Dohlen umsegelt die beiden 76m hohen Türme. Die schwarzen Vögel gehören zu ihren ständigen Bewohnern. Für uns aber gilt es nun, Abschied zu nehmen. Schnell werfen wir noch einen Blick in die Küche von Puppenstubengroßformat. Alles blitzt vor Sauberkeit. Überflüssiger Komfort verbietet sich hier von selbst. Zweckmäßigkeit ist das oberste Gebot. Ein letzter Gruß, dann geht es abwärts. Auf dem Glockenboden verhalten wir noch einmal. Wenn sie jetzt ertönen, die erzenen Mahner, die den Menschen von der Wiege bis zum Grabe begleiten! Welchen Widerhall müsste es geben in den hohen, wuchtigen Turmmauern! Wenn unsere „Rundblick“-Freunde diesen kurzen Bericht gelesen haben, hat der Türmer das neue Jahr schon eingeläutet. Der alte. 86jährige Mann wird es mit dem heißen Wunsche getan haben: „Fieden sei ihr erstes Geläute!“
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