Das Stadtarchiv Oschatz
ist im Besitz einer wertvollen, 151 Blätter umfassende
Pergamenthandschrift in Großfolio (26,5 x 36 cm), die mehrere wichtige
Rechtstexte in mitteldeutscher Mundart aus dem 13. und 14. Jh. sowie
eine „Oschatzer Willkür“ aus dem 15. Jh. enthält. Unter ihnen befindet
sich auch ein Text des „Sachsenspiegels“, der das Datum vom 12.
Juni 1382 trägt. Nach ihm wird die gesamte, von metallbeschlagenen
Holzdeckeln geschützte Handschrift landläufig als „Oschatzer
Sachsenspiegel“ bezeichnet. Auf ihn wie auf die anderen Rechtstexte soll
hier näher eingegangen werden.
Die Entstehung Um 1225
entstand
mit dem Sachsenspiegel das Berühmteste, vielleicht sogar älteste
Rechtsbuch und zugleich das erste Prosawerk in deutscher Sprache. über
Autor und Werk ist im Verlaufe von Jahrhunderten viel geschrieben
worden, ohne dass bis jetzt letzte Klarheit über die Persönlichkeit sowie
über Entstehungsgrund, -zeit und -ort für die letztendlich private
Rechtsaufzeichnung zu erreichen war. Allerdings spricht sehr vieles
dafür, dass um 1200 ganz allgemein das Bedürfnis bestanden hat, die
bisher traditionsgemäß mündlich weitergegebenen Rechtsregeln
zweckmäßigerweise doch einmal aufzuzeichnen, weil sie in ihrer Vielfalt
unübersichtlich zu werden drohten, so dass das inzwischen
wissenschaftlichen bearbeitete römische wie auch das kanonische Recht
allein schon durch ihre Schriftlichkeit immer mehr Einfluss auch im
deutschen Bereich gewinnen konnten. Ein spezieller Grund für die
Aufzeichnung des Sachsenspiegels könnte noch darin gesehen werden, dass die zum Teil aus weit entfernten Landschaften in das
Kolonisationsgebiet ostwärts der Elbe-Saale-Linie einwandernden Siedler,
denen aus ihrer ursprünglichen Heimat andere Rechtsgewohnheiten vertraut
waren, über das im Grenzgebiet geltende Recht informiert werden sollten,
und dass andererseits die Einheimischen auf ihren angestammten Recht
bestehen und sich kein anderes Recht aufzwingen lassen wollten.
Der Inhalt
Der Sachsenspiegel enthält, worauf der Name schon hindeutet,
sächsisches Recht, so wie es im östlichen Harzvorland gebräuchlich
war. Er berücksichtigte in erster Linie die Rechtsverhältnisse im
bäuerlichen Alltag wie auch die rechtlichen Beziehungen der durch
Lehnsvertrag verbundenen Adligen untereinander, woraus auch die
Zweiteilung des Sachsenspiegels in ein Landrechts- und in ein
Lehnrechtsbuch resultiert. In geringerem Umfange werden aber auch
Probleme übergreifender Bedeutung behandelt, wie die Staatspraxis zu
jener Zeit. So werden in den verfassungsrechtlichen Artikeln sehr
deutlich Macht und Grenzen des deutschen Königtums umrissen. Der
König ist oberster Lehnsherr und oberster Richter (Landrecht Buch
III, Artikel 26 § 1 = Ldr III, 26,1). Seine Wahl läuft nach einem
geregelten Verfahren ab, in dem die Kurfürsten die entscheidende
Rolle spielen (Ldr III 57,2). Der König steht nicht außerhalb des
Rechts. Verstößt er dagegen, dann ist der Pfalzgraf sein Richter (Ldr
III 52,3). Innerhalb der Feudalordnung waren seit dem 12. Jh. alle
mit staatlichen Aufgaben verbundenen Ämter in das Lehnssystem
eingebettet. Ihre Träger, die Feudalherren, standen untereinander in
einem rechtlich geregelten Lehnsverhältnis. wofür im Sachsenspiegel
eine siebenstufige Rangordnung entwickelt wurde. Nur wer darin seinen
Platz gefunden hatte, besaß politische Rechte, Dazu gehörten weder
die Stadtbürger noch die freien Bauern, von den Hörigen ganz zu
schweigen. In der nach damaliger Auffassung gottgewollten
Ständeordnung waren ihnen nur die untersten Stufen vorbehalten.
Darunter fiel aber ursprünglich nicht die Leibeigenschaft, die erst
durch Zwang und Gewalt entstanden war, wie das - für die Zeit aus dem
Rahmen fallend - in Landrecht III 42,6 formuliert wird. Einen
wesentlichen Raum nehmen im' Sachsenspiegel die Bestimmungen über
Eigen und Erbe ein, wie überhaupt den Rechtsbeziehungen zwischen den
Einzelnen eine große Bedeutung zugemessen wurde. Die Rechtsstellung
des Menschen von der Geburt bis zum Tode, die durch Alter und
Krankheit hervorgerufenen Beschränkungen im Rechtsverkehr, die
Stellung des Einzelnen in der Familie, die verwandtschaftlichen
Beziehungen und, darauf aufbauend, die ehegüterrechtlichen und
erbrechtliehen Regelungen werden umfassend dargestellt. Viele
Bestimmungen ordnen das Zusammenleben im Dorf, das uns als
Genossenschaft entgegentritt (Ldr II 55). Bauvorschriften (Ldr III
66,2) sind dort ebenso zu finden, wie nachbarrechtliche Vorschriften
über die Traufe, über die Fenster, über Einfriedungen, über
Grenzbäume oder Marksteine, über den Abstand von Backofen,
Schweinekoben und Abtritt vom Zaun sowie über die überhängenden
Zweige (Ldr U'49-52). Es 'gibt Vorschriften über die Rechte und
Pflichten des Gemeindehirten (Ldr II 54,1-6), über Feldschäden (Ldr
II 46-47) und über Tierhaftung (Ldr II 62), über die Ausübung der
Jagd und über den freien Fischfang (Ldr II 61,1), und über die
Deichlast der Ufergrundstücke (Ldr II 56), Interessant ist die ganz
den praktischen Bedürfnissen entsprechende Ordnung im Straßenverkehr
(Ldr II 59,3). Der Fußgänger weicht dem Reiter aus, dieser dem
Fuhrwerk, .und das beladene Fahrzeug hat das Vorrecht vor dem
unbeladenen. Das mittelalterliche Gerichtsverfahren ist in allen
Einzelheiten dargestellt. So werden die Gerichtshoheit des Königs,
die Gerichtsgewalt von Fürsten, Grafen bis zum Schultheissen
voneinander abgrenzt. Es gibt Vorschriften über die Gerichtszeit,
über die Gerichtsstätten innerhalb des Grafschaftsbezirks, über die
Besetzung des Gerichts, über den Ablauf der Verhandlung und über die
Beweismittel wie Parteieneid, Zeugeneid, Urkunde, Augenschein und
Gottesurteile, In allem spiegelt sich die Gerichtspraxis der
damaligen Zeit ganz deutlich wider. Dem Strafrecht ist im
Sachsenspiegel ebenfalls viel Platz eingeräumt worden, wobei leicht
zu erkennen ist, dass hier noch zwei Strafensysteme miteinander
konkurrieren. Das sehr alte (Geld)-Bußensystem, das dem Verletzten
und seiner Familie einen wirtschaftlichen Ausgleich, eine Art
Schadensersatz zugesteht, den der Täter und seine Familie
aufzubringen haben, steht noch neben dem neuen System der peinlichen,
d. h. der körperlichen Strafen, das mit der Landfriedensbewegung.
einer Reaktion der Gesellschaft gegen Raubritter- und
Gewohnheitsverbrecherturn, aufgekommen war. Im Rahmen des
Bußensystems hinterlassen die sog. Schein- oder Spottbußen einen
zwiespältigen Eindruck. Davon sind diejenigen betroffen, die ihr
Recht wegen Diebstahls, Raubes oder anderer Verbrechen schon früher
verloren hatten. Sie erhalten als Buße zwei Besen und eine Schere
zuerkannt, d. h. die Werkzeuge der körperlichen Züchtigung (Ldr III
45,9). Die Angehörigen der niederen Stände sind in ihrem Recht von
vornherein beeinträchtigt. Werden sie verletzt, Ist der finanzielle
Ausgleich nur gering. So erhalten der Tagelöhner zwei wollene
Handschuhe und eine Mistgabel (Ldr III, 45,8), uneheliche Kinder ein
Fuder Heu wie es zwei jährige Ochsen ziehen können" (Ldr III 45,9),
Spielleute und Leibeigene den Schatten eines Mannes, Berufskämpfer
und ihre Kinder das Blinken des Schildes in der Sonne. Alle diese Bußen haben keinen oder nur einen geringen Wert für die Berechtigten;
sie bewahren aber dem Richter den Anspruch auf das Strafgeld
(Gerichtsgebühr). Dieses Strafensystem weicht Im 13. Jh. mehr und
mehr der Todesstrafe, den Verstümmelungsstrafen und den Strafen an
Haut und Haar. Nach dem Sachsenspiegel werden Diebe gehängt (Ldr II
13,7), Verräter, Mörder, Mordbrenner, Mühlen- und Kirchenräuber sowie
Betrüger gerädert, Totschläger, Räuber, Brandstifter, Notzüchtiger,
Ehebrecher gehängt (Ldr II 13,5). Hehler und Diebeshelfer haben die
gleiche Strafe verwirkt wie Diebe oder Räuber. Ketzer, Zauberer und
Giftmischer sollen auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden (Ldr II
13,7). Als Strafe an Haut und Haar wird „des Königs Malter" erwähnt,
worunter ,,32 Schläge mit einer grünen eichenen Gerte, die zwei Ellen
lang ist" (Ldr II 16,4) verstanden wird.
Der Verfasser des
Sachsenspiegels Allein schon aus dieser Auswahl von Beispielen geht
hervor, wie vielfältig und wie kompliziert teilweise die rechtlichen
Regelungen am Anfang des 13. Jh. schon gewesen waren. Es wird aber
auch deutlich, mit welcher Sachkunde der Verfasser des Sachsenspiegels
an die Bewältigung seiner Aufgabe herangegangen ist. Wer war nun
diese Persönlichkeit? Hier gibt das Werk selber den ersten Hinweis.
In der Reimvorrede zum Sachsenspiegel stellt sich sein Verfasser mit
den Worten vor: Nun danket alle zusammen dem Herrn von
Falkenstein, der Graf Hoyer genannt wird, dass dieses Buch au eine
Bitte in deutscher Sprache abgefasst worden ist. Eike von Repchow
hat es getan.
Diese erste Erwähnung allein ist noch kein vollgültiger
Beweis, dass der in der Reimvorrede genannte mit dem Verfasser
identisch ist; da durchaus die Möglichkeit besteht, dass es sich um
eine fiktive Person handeln könnte, die hier aus irgendeinem Grunde
besonders herausgestellt werden soll. In vorliegendem Falle ist
jedoch erwiesen, dass eine Person dieses Namens damals im Raum
zwischen Magdeburg und Halle gelebt hat und häufig in Gerichtssitzungen
aufgetreten ist. Sechs Urkunden aus der Zeit zwischen 1209 und 1233
führen einen Eike von Repchow als Zeugen für wichtige Rechtsakte auf,
die an verschiedenen, meist rechts der Saale liegenden Orten von
politisch einflussreichen Adligen des östlichen Harzvorlandes vorgenommen
wurden. Die Familie von Repchow ist darüber hinaus urkundlich seit 1156
in Reppichau (heute Kreis Köthen) belegt. Nachfahren haben sogar noch
bis zum Anfang des 19. Jh. in Anhalt, Brandenburg und Sachsen gelebt.
Nach den Urkunden zu urteilen, hat Eike von Repchow an voneinander weit
entfernten Gerichtsorten (Mettine bei Zörbig, nördlich davon in
Lippehna, Grimma, Delitzsch und Salbke, heute Ortsteil Magdeburgs) als
Zeuge fungiert, so dass es schwer fällt, in ihm den Schöffen eines
bestimmten Gerichtsbezirkes zu sehen. Vielleicht war er es einmal
gewesen und hat dann andere Aufgaben übernommen, die ebenfalls
Beziehungen zum Recht aufwiesen. Die Urkunden lassen auch den Schluss
zu, dass sich Eike von Repchow 1209 im Mannesalter befunden haben musste,
sonst hätte er zu diesem Zeitpunkt nicht als Zeuge auftreten können. Da
die Volljährigkeit nach sächsischem Recht mit der Vollendung des 25.
Lebensjahres eintrat, könnte seine Geburt um 1180 angesetzt werden. Der
Geburtsort war allem Anschein nach Reppichau, wenn die Familie nicht
inzwischen so weit verzweigt war, dass auch andere Orte infragekämen.
Den Urkunden ist schließlich noch zu entnehmen, dass Eike von Repchow
zweimal zusammen mit dem Grafen Hoyer von Falkenstein als Zeuge
aufgeführt worden ist. Da Eike diesen Grafen in der Vorrede als Anreger
für die deutsche Fassung des Sachsenspiegels besonders herausgehoben
hat, liegt die Vermutung nahe, dass Eike Lehnsmann des Falkensteiners
gewesen war.
Die Textentwicklung Nach seinen
eigenen Worten in der Reimvorrede hat Eike von Repchow auf Bitten
seines Herrn, des Grafen Hoyer von Falkenstein, aus dem ursprünglich
lateinischen Text eine deutsche Fassung hergestellt. Wenn dabei von
ihm keine Ergänzungen vorgenommen worden sind, muss die lateinische
Urfassung, die wahrscheinlich nur im Lehnrechtsteil überliefert ist,
kurz nach 1220 entstanden sein, die deutsche Übersetzung um 1225.
Eine genauere Datierung war bis jetzt noch nicht mit letzter
Sicherheit zu erlangen. Auch der Entstehungsort bleibt im Dunkeln.
Die Burg Falkenstein oder das Stammgut in Reppichau kommen kaum
infrage, weil ihm dort die in den Sachsenspiegel eingearbeitete
Literatur kaum zur Verfügung gestanden hat, so dass sich die weitere
Suche auf eine der Stifts- oder auf Klosterbibliotheken konzentrieren
muss wobei Magdeburg, Halberstadt. Quedlinburg oder Halle besonders
ins Auge zu fassen sind. Halle ist deshalb mit einzubeziehen, weil
dort 1116 das Kloster Neuwerk gegründet und reich ausgestattet worden
ist, was später auch auf das 1184 gegründete Moritzkloster zutrifft.
Die erste Fassung des Sachsenspiegels war nicht schon die endgültige.
Sie wurde erst nach einem längeren textlichen Entwicklungsprozess
erreicht. Die berühmten Bilderhandschriften zum Sachsenspiegel. in
denen der Text durchgängig mit erklärenden Bildern illustriert ist, sind
ebenfalls ein geistiges Produkt, das im östlichen Harzvorland entstanden ist. Von ihnen müssen mindestens sieben vorhanden
gewesen sein. Die drei älteren sind nicht mehr erhalten. Dazu gehört
auch die Urform, die kurz nach 1290 im Bistum Halberstadt entstanden
sein muss. Die vier auf uns überkommenen Handschriften werden nach ihren
Aufbewahrungsorten Dresden, Heidelberg, Oldenburg und Wolfenbüttel
benannt. Von ihnen ist die Heidelberger Bilderhandschrift (um 1300) die
älteste, die Wolfenbütteler die jüngste (nach 1375). Die Oldenburger
Bilderhandschrift ist die einzige datierte. Sie entstand 1336, bald
danach auch die Dresdener, wurde vermutlich in Meißen hergestellt und
ist mit 924 Bildstreifen die Vollständigste. Sie befindet sich im
Buchmuseum der Sächsischen Landesbibliothek in Dresden, wo sie sichtbar,
aber nicht mehr benutzbar aufbewahrt wird. Eine kriegsbedingte
Auslagerung in einem Tiefkeller hat sie nur mit erheblichen Schäden
überstanden.
Alle Bilderhandschriften dienten vermutlich didaktischen Zwecken, was in
vieler Hinsicht auch von den Ende des 14. Jh., entstandenen
systematischen Handschriften des Sachsenspiegels gesagt werden kann. Sie
sind anfangs durch Textverweisungen und durch Sachregister, später auch
durch eine Systematisierung des gesamten Rechtsstoffes gekennzeichnet.
Zur Erläuterung trugen letztlich auch die glossierten Handschriften bei,
die allerdings in erster Linie den Zweck verfolgten, Übereinstimmungen
zwischen dem Sachsenspiegeltext und dem römischen bzw. dem kanonischen
Recht herauszuarbeiten, was auf die Dauer dazu führte, dass dem
Sachsenspiegel eine feste Stellung im damaligen von der Wissenschaft
entwickelten Rechtsquellensystem eingeräumt wurde. In einem langen
Entwicklungsprozess haben sich Inhalt und Gliederung des Sachsenspiegels
endgültig ausgeformt. Das ist als sicheres Zeichen dafür zu werten, dass
sein Text gebraucht und die Handschriften benutzt worden sind. Beides
führte im 15. Jh. zur vulgaten. zur allgemein anerkannten Textgestalt.
die den modernen Sachsenspiegelausgaben zugrunde liegt.
Zur Wirkungsgeschichte Schon ein Jahrhundert nach
der Entstehung des Sachsenspiegels ist dieses Rechtsbuch in einem Raum bekannt
geworden, der von Hamburg und Stade im Norden bis nach Augsburg
im Süden, vom
Niederrhein im Westen bis nach Kraków/Krakau im Osten reicht. Diese Verbreitung
geschah durch Weitergabe des Sachsenspiegeltextes insgesamt oder in
einzelnen Bestimmungen. Noch aus dem 13. Jh. stammen die Handschrift aus
der Quedlinburger Stiftsbibliothek. die seit 1938 in der
Universitäts- und Landesbibliothek Halle (Saale) verwahrt wird, sowie die älteste
datierte
Handschrift, der Harffer Sachsenspiegel aus dem Jahre 1295. Drei Fragmente zum
Sachsenspiegel und eine vollständige Handschrift aus demselben Jahrhundert sind
seit dem zweiten Weltkrieg verschollen. Eikes Rechtsbuch ist
offensichtlich schon früh in andere Rechtsaufzeichnungen aufgenommen
worden. So beziehen sich die Schöffen von Halle bereits im Jahre 1235
in ihren Rechtsmittellungen an die schlesische Stadt Neumarkt auf
Vorschriften des Sachsenspiegels. Das trifft in ähnlicher Weise auf
den Bericht der Stader Annalen zum Jahre 1240/41, auf das
Braunschweiger Fürstenweistum von 1252 und auf die Rechtsmitteilung
der Magdeburger Ratsmannen und Schöffen für Breslau aus dem Jahre
1261 zu. Für die Verbreitung sorgten anfangs zunächst die Schöffen
von Halle und Magdeburg sowie die Magdeburger Franziskaner, über
deren bekanntes Lektorat Abschriften des Sachsenspiegel Textes bald
an die süddeutschen Ordensbrüder weitergegeben wurden, was in der'
zweiten Hälfte des 13. Jh. zu einer Übertragung des
mittelniederdeutschen Rechtsbuches ins Oberdeutsche führte: Sie
diente als Vorlage für die süddeutschen Spiegel, für den
Deutschenspiegel (um 1265) und für das Kaiserliche Land- und
Lehnrechtsbuch von 1275, das unter, dem Namen Schwabenspiegel zu
einem Begriff geworden ist. An der Verbreitung des Sachsenspiegels
waren schließlich auch gelehrte Juristen beteiligt, wie z. B. Jordanus von Boitzenburg, der einen Sachsenspiegel text der vierten
Fassung dem Hamburger Ordeelbook von 1270 zugrundelegte, oder Konrad
von Oppeln, der zwischen 1272 und 1292 auf 'Veranlassung des Bischofs
Thomas II. von Breslau den Sachsenspiegel ins Lateinische übersetzte.
Obwohl Papst Gregor XI. auf Drängen des Augustinermönchs Johannes
Klenkok im jahre 1.374 insgesamt 14 Artikel des Sachsenspiegels in
der Bulle Salvator generis humani verwirft, weil sie mit dem
kirchlichen Recht nicht in Einklang standen, spielte dieses
Rechtsbuch als geschriebenes und inzwischen kommentiertes Recht auch
in den folgenden Jahrhunderten eine gewichtige Rolle im Bereich des
Sächsischen Rechts, aber auch weit darüber hinaus. Der Sachsenspiegel
war maßgebliche Quelle für viele andere Rechtsbücher im deutschen wie
im außerdeutschen Bereich, speziell in ost- und südosteuropäischen
Rechtsordnungen, in denen Vorschriften des Sachsenspiegels das
dortige Rechtsleben jahrhunderte lang mitbestimmten. Das beweisen die
etwa 460 Handschriften, die bis in unsere Tage überliefert sind.
Sehr häufig wurde der Sachsenspiegel im engen Verbund mit der um die
Wende zum 14. Jh. entstandenen Magdeburger Weichbildvulgata, einer
Zusammenfassung des. Magdeburger Stadtrechts, aufgezeichnet und
weitergegeben. Beide dienten gewissermaßen als Muster einerseits für
städtisches, andererseits für ländliches Recht. Dabei ist allerdings
zu berücksichtigen, dass die im außerdeutschen Bereich auf der
Grundlage des sächsisch-magdeburgischen Rechts entstandenen
Rechtsaufzeichnungen in den entsprechenden Rechtsordnungen bald ein
Eigenleben führten, das besonders nachhaltig war, wenn die
ursprünglich deutschen, oder lateinischen Rechtstexte in die
Landessprache übersetzt wurden, z. B. ins Polnische, Ukrainische oder
ins Slowakische, wie beim SiIleiner Rechtsbuch von 1378, das insofern
eine Besonderheit aufweist, als hier Magdeburger Weichbild vulgata
und Sachsenspiegel nicht nacheinander aufgeführt sind, sondern beide
Texte zu einer neuen Einheit verschmolzen wurden. Die Wirkung des
Sachsenspiegels auf die Rechtsentwicklung war in territorialer wie
zeitlicher Hinsicht ganz erheblich. Sie war Jahrhunderte nach
der Entstehung sogar stärker als im 13. Jh., und noch weit ins 19. Jh.
hinein lassen sich seine Spuren verfolgen, wobei man sich stets vor
Augen halten sollte, dass der Sachsenspiegel eine private
Rechtsaufzeichnung war.
Der Oschatzer Sachsenspiegel Der
Sachsenspiegel-Text in der Oschatzer Handschrift aus dem jahre 1382
gehört eindeutig der vulgaten, also der jüngsten Handschriftenform
des Sachsenspiegels an. Inzwischen ist sie unter der Nummer 926 in
dem von Conrad Borchling und von ]ulius von Gierke in mühseliger
Kleinarbeit seit 1910 angefertigten und 1934 veröffentlichten
Verzeichnis aller Handschriften zu den deutschen Rechtsbüchern
registriert. Beide stützten sich auf die Hinweise von Carl Samuel
Hoffmann, der 1813 in seiner Historischen Beschreibung der Stadt, des
Amtes und der Diözese Oschatz diese Handschrift erstmalig erwähnte,
ferner auf die gründlichen Forschungen von Friedrich August Nietzsche
und auf Carl Gustav Homeyer, dem Nietzsche in uneigennützigerweise
seine Arbeiten zur weiteren wissenschaftlichen Verwertung
überließ.
Die weiteren Rechtstexte in der Oschatzer Handschrift Zum
Magdeburger Recht Die Oschatzer Handschrift enthält eine Reihe von
Rechtstexten, die ursprünglich für Stadt und Erzstift Magdeburg
geschaffen worden waren, später jedoch wie der Sachsenspiegel weite
Verbreitung fanden. Auch die Stadt Oschatz, an dem bekannten
West-Ost-Handelsweg, an der Hohen Straße gelegen, wurde nach
Magdeburger Recht gegründet, so dass es keineswegs überrascht, hier
eine Handschrift mit Magdeburger Rechtstexten zu finden. Die
Handschrift beginnt auf Seite 5 mit dem Magdeburger Dienstmannenrecht,
das zwischen 1250 und 1280 entstanden ist. In zwölf Artikeln werden
die Rechte der Dienstmannen oder Ministerialen fixiert, die um diese
Zeit als ehemals abhängige Dienstleute in die Kreise des Adels
überwechseln. Auf derselben Seite (Spalte 2, Mitte) schließt sich der
Sachsenspiegeltext mit der Vorrede "von der herren geburt" an, in der
die stammesmäßige Herkunft einzelner Adelsgeschlechter des nördlichen
und östlichen Harzvorlandes aufgeführt und damit das für sie geltende
Recht (fränkisches, schwäbisches oder sächsisches) bestimmt wird.
Dann folgen die Vorrede in (12) Strophen, die Vorrede in Reimpaaren,
der Prolog und der Text des Prologs (Seiten 6 bis 12), in denen im
wesentlichen auf Entstehung und Zweck des Sachsenspiegels eingegangen
wird. Unmittelbar nach den Vorreden beginnen die drei Bücher
des Sachsenspiegels Landrechtes in 71, 72 und 91 Artikeln
(S. 12, Spalte 2 bis S. 101). Bevor aber, wie eigentlich zu erwarten,
das Lehnrecht des Sachsenspiegels anfängt, werden erst drei andere
Rechtstexte eingeschoben. Auf den Seiten 102 bis 105 ist zunächst ein
prozessrechtliches Merkbuch aufgeführt, das unter dem Namen Cautela
(Vorsicht) zwischen 1350 und 1359 in Magdeburg entstanden ist und
Anweisungen zum vorsichtigen Verhalten vor Gericht enthält. Dieser
Prozessbelehrung schließt sich nach dem Vorbild anderer Handschriften
der auf den märkischen Hofrichter Johann von Buch zurückgehende und
um 1335 entstandene Richtsteig Landrechts in 50 Kapiteln an (S. 105
bis 179), in denen das Gerichtsverfahren nach Sachsenspiegelrecht
dargestellt wird. Auf den Seiten 179 bis 186 ist die Magdeburger
Weichbildchronik aufgezeichnet worden, wobei unter Weichbild ein
Ortsrecht. hier also das Magdeburger Ortsrecht zu verstehen ist.
Diese zwischen 1235 und 1250 entstandene Chronik dient meist als
Vorrede zum sächsischen Weichbild (Weichbildvulgata), einer nach 1300
entstandenen Zusammenfassung des Magdeburger Rechts aus dem
Magdeburger Schöffenrecht und dem Weichbildrecht. auch Rechtsbuch von
der Gerichtsverfassung genannt. Die Weichbildvulgata in 137 Artikeln
folgt der Weichbildchronik auf den Seiten 186 bis 236, wobei nach
Seite 224 eine Lücke erkennbar ist, die darauf hindeutet, dass vor
längerer Zeit ein Blatt aus der Handschrift herausgeschnitten wurde.
Der Darstellung des Magdeburger Rechts folgt nun auf den Seiten 236
bis 282 das Sachsenspiegel Lehnrecht, das aber unvollständig ist;
denn es bricht im Artikel 73 ab. Die folgenden Artikel bis 78
einschließlich fehlen ebenso wie große Teile am Anfang des auf den
Seiten 283 bis 299 aufgezeichnete Registers- zum Sachsenspiegel
Landrecht (unvollständig), zum sächsischen Weichbild und zum
Sachsenspiegel Landrecht. Das Register und damit die Aufzeichnung
des sächsischen Rechts endet mit den Worten: Anno domini M°C°C°Ixxxii° completus est
lib(er) iste in octava corp(or)is
Chr(ist)i (Im jahre des Herrn 1382 ist dieses Buch vollendet worden
acht Tage nach Fronleichnam = 12. Juni 1382). Diese Formel schließt
die übergreifenden, d. h. die für einen größerne Rechtsbereich
geltenden Bestimmungen ab, die wie in anderen Städten auch in Oschatz
zur Anwendung kamen.
Die Oschatzer Willkür von der Gerade
Den Abschluss der Pergamenthandschrift bildet eine Willkür der Stadt
Oschatz, worunter eine eigenständig von der Bürgerschaft - erlassene
und nur für Oschatz geltende Rechtsvorschrift zu verstehen ist. Sie
ist auf den Seiten 299 bis 300 niedergeschrieben und hat die sog.
Gerade zum Inhalt. Der Sachsenspiegel versteht darunter ein
Sondervermögen. das der Frau beim Tode ihres Mannes als Voraus, also
außerhalb der Erbschaft zufällt. Es umfasst eine Reihe von nützlichen
Gegenständen für Frauen. In den Städten, wie hier in Oschatz, nimmt
die Gerade den Charakter einer Witwenversorgung an. Im einzelnen wird
festgelegt, dass beim Tod des Ehemannes der Witwe "alle ihre Kleider,
das beste Bett mit zwei Kissen und mit zwei Leinenlaken und einem
Deckbett oder einer Decke" sowie die Hälfte des Hausrates zustehen.
Die andere Hälfte gehört den Kindern. Bei kinderloser Ehe soll die
Witwe die gesamte Gerade, also auch den ungeteilten Hausrat, außer
goldenen und silbernen Gefäßen, behalten. Diese wie alles, was der
Ehemann nachweislich hat zu seinem Gebrauch anfertigen lassen, fällt
ins Erbe und nicht in die Gerade. Dagegen soll die Witwe Kopfputz,
Schmuck, Ringe und dergleichen, womit sich die Frauen zieren,
behalten. Stirbt die Frau vor dem Mann, so soll der Mann die Gerade
den noch nicht ausgestatteten Töchtern überlassen. Sind keine
vorhanden, so soll die nächste Verwandte der Verstorbenen "das
beste paar Kleider, das zweitbeste Bett, zwei Kissen und ein paar
Leinenlaken und eine Decke" erhalten, was in Oschatz die kleine
Gerade genannt wird, wie aus einer Randbemerkung hervorgeht. In
diesem Falle soll der hinterbliebene Ehemann Gerätschaften und
Hausrat behalten. Dieselbe Regelung, also die kleine Gerade, ist
vorgesehen, wenn die Witwe bei den Söhnen lebte und dort verstirbt.
und wenn sie keine Schwester haben. Hinterläßt die Witwe eine
Tochter, einen Sohn, der dem geistlichen Stande angehört, sowie
weitere Söhne, so soll die Gerade zwischen der Tochter und dem
(geistlichen) Sohne einerseits sowie den übrigen Söhnen andererseits
geteilt werden. Die Nichtcinhaltung dieser Vorschriften wird mit zehn
Mark gebüßt. Am 12. August 1457 wurde durch Ratsbeschluss noch einmal
ausdrücklich festgelegt, dass die volle Gerade von der (verstorbenen)
Mutter auf die noch nicht ausgestattete Tochter übergehen soll, wie
es am unteren Rand von Schreiberhand vermerkt ist.
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