Kulturkampf um Straßenschilder nach der Wende?
Um es vorwegzunehmen, der "Kulturkampf" hat nicht stattgefunden.
Natürlich gab es nach 1989 in den Städten und Gemeinden der ehemaligen DDR bei Neu- und Umbenennungsaktionen Distanz zur
Erinnerung an das alte System des "real existierenden Sozialismus", zum Verständnis von öffentlichen Benennungen, wie sie in
der DDR gepflegt wurden, nämlich als offensives Repräsentations- und Motivationsmedium. Die Denkmäler und Straßenschilder
der Heroen des DDR-Sozialismus wurden in vielen Orten nach 1989 abmontiert. Dennoch, selbst bei fundamentalen
Veränderungen blieben die meisten Straßennamen erhalten. Bei Namensvergaben für die zu
ersetzenden Straßenschilder war vielerorts eine Abkehr vom Politischen mit Rückwendung zu den alten, traditionellen
Straßenbezeichnungen zu registrieren.
So verschwanden in Oschatz alle Namen wichtiger Straßen und Plätze im Zentrum der
Stadt, die aus dem Ehrenkodex der DDR stammten: die beiden Märkte erhielten wieder ihre alten Namen; es gab von nun an wieder die
Altoschatzer, die Hospital-, die Brüderstraße... In Dahlen musste sich Karl Marx als
Beiname des Marktes verabschieden. Ansonsten blieb es weitgehend beim alten. An der
Namensgebung mit Leuten aus dem antifaschistischen Widerstand (in Dahlen z.B. A. Weidner, M. Taube, H. Wiedner; in Oschatz u.a.
Ernst Schneller, wagte man nicht zu rütteln. Erstaunlich: Eine Oschatzer Straße, die nach
dem 1. Präsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, benannt worden ist, hat ihren Namen behalten! Einmalig im Umkreis. Ich habe mir
einmal die Mühe gemacht, alle Straßenverzeichnisse des Landkreises Torgau-Oschatz anzusehen: Das "Schärfste"
begegnete mir in zwei Dörfern, was noch voll an das DDR-System erinnert. In Süptitz, OT von Dreiheide, gibt es tatsächlich
noch einen SED-Weg, in Welsau/Gemeinde Zinna eine LPG-Siedlung. Sehr verbreitet ist
übrigens der Name Ernst Thälmann als Straßenname im gesamten Kreisgebiet. In der Beliebtheit folgten mit gleichen Anteilen
die Altkommunisten Karl Liebknecht, Clara Zetkin und der Sozialdemokrat Rudolf Breitscheid.
Auf ein Unikum in unserer Region bin ich im Dahlener Ortsteil Börln gestoßen.
Von neun Straßen im "Atlas Landkreis Torgau-Oschatz" aus dem Jahre 2006 tauchen immer noch fünf Namen auf,
die ihren Ursprung sicher aus der DDR-Zeit haben. Neben einer Karl-Marx-Straße und Clara-Zetkin-Straße gibt es in Börln
auch noch einen Ernst-Thälmann-Platz. Für die meisten von uns ein völlig Unbekannter ist Philipp Müller. Wer ist das und
wie kommt er ausgerechnet nach Börln? Benennungen nach Philipp Müller gab es überall
in der DDR für Straßen, Schulen, Kollektive usw. Es handelte sich bei ihm um einen westdeutschen FDJler (1931 in München
geboren), der bei einer Demonstration in Essen 1952 von einem Polizisten erschossen worden ist. Er fand als antifaschistischer Widerstandskämpfer "im Ehrentempel" der SED Eingang.
Eine Durchgangsstraße ist in Börln nach Otto Nuschke (1883-1957) benannt. Er plädierte
nach dem Kriege für die Zusammenarbeit mit der (Ost-)CDU mit der KPD/SED und Übernahm nach dem Rücktritt von J. Kaiser und
E. Lemmer den Vorsitz der CDU in der SBZ/DDR. Bis zu seinem Tode war er stellvertretender Ministerpräsident der DDR.
Auch der Turnvater Friedrich Ludwig Jahn kommt in Dahlener Ortsteil in Gestalt eines
Straßennamens zu Ehren,. F. L. Jahn (1778-1852) galt neben Gneisenau und Scharnhorst nach SED-Lesart als Begründer der
deutschen Turnbewegung als fortschrittlich national.
Man kann sich denken, warum die Gemeindevertreter bzw. die Dahlener
Stadtverordneten sich – wie in anderen Städten der neuen Bundesländer – nach 1990 bei Straßennamensänderungen sehr
zurückhielten. Wenn man den Aufwand für eine derartige Umbenennung einmal bedenkt, dann dürften selbst gute
politische Motive für eine solche Aktion in der Zeit tiefer Verschuldung unserer Kommunen (vorerst) für eine
ganze Weile hintan stehen.
Bilanz
Als Bilanz dieser Betrachtung über einige Straßennamen unseres
Kreises speziell die personenbezogenen, lässt sich festhalten: Mit
Straßennamen kann man imgrunde die Geschichte einer Stadt, einer Ortschaft entziffern. Das heißt, mit
entsprechender fachlicher und sprachlicher Kompetenz ausgerüstet, kann man aus Straßennamen beispielsweise
auf lokalhistorischer Eigenarten oder der Bevölkerung einer Ansiedlung schließen (s. Handwerkerviertel,
Judenviertel...). Aus der Geschichte von Straßennamen (z.B. Umbenennungen, Veränderungen im Sinne von
Bereinigung...) lassen sich Rückschlüsse auf politische, ökonomische oder kulturell-religiöse Umbrüche
im urbanen Raum ziehen. Ähnlich wie Denkmäler vermitteln auch
Straßennamen Vergangenheit. Sie verweisen auf die Epoche ihrer Entstehung, und Veränderungen zeigen die Art
des Umgangs mit Erinnerung in einer Gesellschaft an. Dies macht sie gewissermaßen zu Erinnerungsfiguren im kollektiven
Gedächtnis (1) der Bewohner eines Ortes. Sind sie das tatsächlich?
Was blieb zum Beispiel im kollektiven Gedächtnis der Bevölkerung in den neuen Bundesländern nach 1990 von jenem durch
das SED-System zentralistisch suggerierte und vermittelte Gedächtnis überhaupt übrig?
Wie wir gesehen haben, wurden nach 1990 vielerorts in der vormaligen DDR
mit der Änderung spezifischer Namen der DDR z.B. auf Straßenschildern gleichfalls die Erinnerung an das dort
herrschende Regime getilgt. Das offizielle Gedächtnis der DDR fiel so immer mehr dem Vergessen anheim. Aber,
was auch immer mit den Straßennamen nach der Wende in Oschatz und an anderer Stelle geschah (wenn überhaupt in
dieser Hinsicht etwas geschah!), für den normalen Zeitgenossen besitzt der Name seiner Straße und der übrigen
seiner Gemeinde in erster Linie den Gebrauchswert der räumlichen Orientierung. Die Frage nach der Herkunft des
Namens seiner Straße (und der anderen) ist für ihn im allgemeinen zweitrangig bzw. uninteressant. Daher kann man
die oben gestellten Fragen doch eher in diesem Sinne beantworten: Das
kollektive Gedächtnis in Bezug vor allem auf personenbezogene Straßennamen hat es vor und nach 1990 meines
Erachtens imgrunde nur in den Hirnen derer gegeben, die sich als Initiatoren bei Neu/Umbenennungen von Plätzen,
Straßen usw. betätigten und damit mehr (in DDR-Zeiten) oder weniger (nach 1990) ihre Vorstellungen von dem, was
kollektives Gedächtnis, was erinnerungswert zu sein habe, durchsetzten.
Auf diese Weise wollte die jeweilige Obrigkeit an zentralen Plätzen und
Straßen sichtbare Zeichen ihrer Herrschaft setzen, gewissermaßen über derartige Erinnerungfiguren ein neues
Gedächtnis installieren. Jedes Regime tauschte und tauscht Unliebsames gegen eigene Symbole (hier: Straßennamen)
aus – und daran hat sich seit dem 19. Jahrhundert nichts geändert, was zu beweisen war.
Nachtrag von Oschatz-damals
In der Abhandlung von Arndt Böttcher ist ein Weg nicht mit aufgeführt, sicher weil er noch in keinem Stadtplan verzeichnet ist.
Im Zuge der LAGO, der Landesgartenschau, die 2006 in Oschatz stattfand, erhielt der Weg von der schiefen Brücke an der Freiherr-vom-Stein-Promenade bis zur Straße "An der Aue" in Kleinforst den Namen "Rudolf-Tischer-Weg". Rudolf Tischer wurde in Oschatz geboren, ging in die Vereinigten Staaten und avancierte dort zum "Autokönig". Heute ist er ein Mäzen seiner Heimatstadt Oschatz, die er immer wieder gern besucht.
(1) Sänger, a.a.O., 34 u.a.) |