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Teil I, II, III, IV, V, VI, VII, VIII, IX, X, XI, XII, XIII, XIV, XV, XVI, XVII, XVIII

© Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Martin Kupke dürfen Teile aus der im Jahre 2000 erschienenen Dokumentation „Die Wende in Oschatz“ hier wiedergegeben werden. Das Bildmaterial stammt aus dem Archiv von Eckhard Thiem, Großböhla.

Zweite Montagsrunde am 22. Januar 1990, 18 Uhr in der Klosterkirche

Auch an diesem Abend war wieder eine Lautsprecherübertragung zu dem oberen Raum der Klosterkirche nötig. Es ging um das Thema „Volksbildung“. Teilnehmer waren:
Ökokreis – Frau John, Herr Voigtländer
CDU – Herr Dr. Heidemann, Herr Kupfer
DBD – Herr Klötitz, Herr Müller
LDPD – Herr Köhncke, Herr Haschke
NDPD – Herr Klemig, Herr Hennig
SED/PDS – Herr Becker, Herr Dinter
SPD – Frau Müller, Herr Dorow
Neues Forum – Frau Neubert, Frau Münkner
Katholische Kirche – Frau Günster, Pfarrer Müller
Evangelische Kirche – Frau Pfennig, Herr Eulitz
Parteilos – Frau Grundmann, Frau Lohse
Stellvertretender Bürgermeister – Herr Wesser
LVZ – Frau Liebegall
Protokollantin – Frau R. Müller


Plakat der 2. Oschatzer Montagsrunde

Im einleitenden allgemeinen Teil sagte ich:
„1. Wir haben im Vorbereitungskreis den vorigen Montag ausgewertet und dabei festgestellt, dass es auf Dauer nicht möglich ist, wenn ein kleiner Kreis redet und die meisten stumm bleiben. Deshalb meinen wir, es sei gut, wieder zum Bürgerforum im Kino zusammenzukommen. Dies soll im Wechsel geschehen. Auch thematisch soll gewechselt werden. Bei der Montagsrunde in der Klosterkirche werden wir Kommunalfragen behandeln, beim Bürgerforum im Kino aktuelle politische Fragen. Am nächsten Montag treffen wir uns also 18 Uhr im Kino, um uns mit der Wahlvorbereitung zu befassen. Es ist wichtig, dass sich die Parteien, die dann gewählt werden wollen, dort vorstellen. Das betrifft auch alle politisch aktiven Gruppen. Im Anschluss an diese Veranstaltung wird es dann wieder eine Demonstration geben. Fertigen Sie bitte qualifizierte Plakate zu aktuellen Fragen an. Am 5. Februar kommen wir dann wieder zur Montagsrunde zusammen, die sich noch einmal mit dem Thema ‚Gesundheitswesen‘ befassen wird. Die Vorbereitung erfolgt durch die Initiativgruppe ‚Gesundheits- und Sozialwesen‘.
2. Ich möchte den Zuschauern für ihre enorme Disziplin danken, die sie am vergangenen Montag aufgebracht haben. Es ist schwer, zu schweigen, wo man etwas zu sagen hat.
3. Informationen:
- Die Litfaßsäule steht. Die erstaunten Bürger werden von ihr magnetisch angezogen. Allen Beteiligten möchte ich herzlich danken! Benutzen Sie diese Säule bitte so, wie sie gedacht ist. Kleben Sie interessante und qualifizierte Plakate an. Die Gruppe Öffentlichkeitsarbeit möchte die Säule bitte kontrollieren und betreuen.
- Zu den Videoaufnahmen: Beim Ministerium für Post- und Fernmeldewesen liegt ein Antrag vor, die Aufnahmen von Herrn Wächtler in unserem Ortsnetz einspeisen zu dürfen. Wir hoffen auf eine baldige positive Antwort. ( Diese ist dann nie gekommen). - Am Sonnabend wird in Oschatz ein Behindertenverband gegründet. Die Gründungsversammlung findet im Kreiskulturhaus statt.
- Wir danken der Stadtverordnetenversammlung, dass sie dem Beschluss der Montagsrunde folgte und das Stasigebäude den Behinderten zugesprochen hat.
- Herrn Barthen danken wir für den Druck der Kurzfassung unserer ersten Montagsrunde.

Fotos von der Aufstellung der Litfaßsäule in der Sporerstraße am 19.01.1990

4. Ich möchte die Gäste für das heutige Thema „Schul- und Bildungsfragen“ begrüßen:
Die Kreisschulrätin Frau Schmidt, den Direktor der Pestalozzi-Oberschule, Herrn Streubel, den Direktor der EOS, Herrn Niebilsky, den Elternvertreter, Herrn Liebig, die Schülervertreterin Melanie Müller, die sich noch Verstärkung mitgebracht hat.“

Die Gesprächsleitung für den zweiten Teil übernahm Herr Mathias Kölbel. Das Thema hieß konkret: „40 Jahre permanente kommunistische Erziehung – Ergebnisse und Folgen für Kinder, Eltern und Lehrer“.
Frau Schmidt, Kreisschulrätin: „In der sozialistischen Schule sind selbstbewusste junge Leute herangebildet worden (lautstarker Protest). Die kommunistische Erziehung war auch Erziehung zur Menschlichkeit (Gemurmel, Gelächter, Protest). Die ideologische Ausrichtung der Schule hat aber zur Verengung des Denkens geführt. Wir haben unsere Ziele nicht erreicht. Ein Umdenkungsprozess ist nötig, für den wir aber Zeit brauchen.“
Herr Kölbel: „Meinen Sie, dass jetzt die gleichen Personen alles weitermachen können, sie müssen nur ein bisschen umgeschult werden?“
Frau Schmidt: „Unsere Pädagogen haben die Möglichkeit für einen Umdenkungsprozess verdient. Wir können nicht ohne Pädagogen auskommen (lautes Pfeiffen).“
Herr Kölbel: „Natürlich brauchen wir Lehrer, das bezweifelt keiner. Die Frage war aber, ob sie nach vierzig Jahren kommunistischer Erziehung noch zu dieser Arbeit fähig sind.“
Herr Streubel: „Es gibt kein Fach Marxismus in der Schule (Gelächter, Protest, Zwischenrufe).“
Herr Köhncke: „Wie war es mit den Berufsverboten von Lehrern? Honecker war ein Verbrecher und Lump ( Klatschen). Die Lehrer tun sich mit der Wende schwer. Sie haben noch ihren alten Stil.“
Frau Neubert, Lehrerin, Neues Forum: „Die Schule ist nicht nur inhaltlich umzugestalten, es ist auch ein Umerziehungsprozess erforderlich, der noch nicht einmal begonnen hat.“
Frau Müller, Lehrerin, SPD: Die Kreisschulrätin Frau Schmidt hat in einer Anweisung vom 10.10.89 erklärt, dass alle, die in Leipzig demonstrieren, Konterrevolutionäre sind. Die Lehrer, die das nicht so sahen, erhielten eine Rüge.“
Herr Haschke, Lehrer, LDPD: „Die Schule ist nicht nur für die Bildung zuständig, sondern auch für das Umfeld. In der Schule ist das Leistungsprinzip stärker durchzusetzen. Den Eltern sollte mehr Entscheidungsfreiheit eingeräumt werden und die Schüler sollten stärker gehört werden.“
Dr. Heidemann, CDU: „Die Lehrer müssen von Funktionen entbunden werden, die nichts mit der Schule zu tun haben. Der Direktor sollte von den Lehrern gewählt werden. Es könnten Schülervertretungen gebildet werden.“
Melanie Müller, Schülervertreterin: „Ein Internat für die EOS ist nicht nötig, die Schüler fahren lieber nach Hause. Die FDJ hat in der Schule nichts zu suchen.“
Herr Liebig, Elternvertreter: „Der Elternbeirat ist in der bestehenden Form nicht mehr zeitgemäß, er hat kaum ein Mitspracherecht. Meinungen werden manipuliert.“
Frau Neubert: „Der Direktorenposten darf keine Lebensstellung sein. Der Direktor und sein Stellvertreter sind demokratisch zu wählen. Ich bin gegen die Uniformierung der Schulen und halte die Gründung von Freien Schulen für erforderlich.“
Pfarrer Müller, Katholische Kirche: „In unseren Schulen herrscht immer noch das alte System. Die Lehrer müssen sich ändern oder sie müssen gehen, wie es 1945 der Fall war. Die Lehrpläne sind sofort zu ändern. Die Initiativgruppe ‚Schule‘ sollte in den Schulen hospitieren.“
Frau Pfennig, Evangelische Kirche: „Ich hätte in der Elternvertretung gern mitgearbeitet, hatte aber nicht die Chance, hineinzukommen. Das lag am Auswahlverfahren. Nichtpioniere und ihre Eltern wurden von bestimmten Dingen ausgeschlossen. Manchmal wurde den Nichtpionieren aber sogar ein Halstuch umgebunden, damit sie optisch nicht auffielen.“ Frau Schmidt, Kreisschulrätin: „Das Alte haben wir zu prüfen, das Beste auszuwählen und zu verändern. Für alle Pädagogen ist ein Umdenkungsprozess nötig, man muss ihnen die Möglichkeit dafür auch einräumen.“
Herr Streubel, Direktor der Pestalozzi-Oberschule: „Wir haben bei uns in der Schule eine Wandzeitung, an der über die Veränderungen in der DDR berichtet wird. An unserer Schule werden auch Vorschläge zur Veränderung der Elternbeiratswahlen erarbeitet und an die Abteilung Volksbildung weitergereicht. Diese Vorschläge müssten heute hier eigentlich vorliegen.“
Herr Köhncke, LDPD: „Im November 89 hing in der Karl-Liebknecht-Oberschule noch ein Bild von Honecker. Wieso wurde der Direktor dieser Schule noch nicht abgelöst? Wenn ein Lehrer einen Ausreiseantrag stellte, erhielt er Berufsverbot. Was wird heute dazu gesagt? Zur Wahl eines Direktors wurde von der Kreisschulrätin auch noch nicht Stellung genommen.“
Frau Lohse, parteilos: „Stimmt es, dass ein ehemaliger Mitarbeiter der Stasi in der Hilfsschule Altoschatz eine Anstellung fand und dass auch zwei Mitarbeiter der Stasi im Kinderheim Borna eingesetzt wurden?“
Frau Schmidt: „Hilfsschule Altoschatz stimmt. Das ist ein ehemaliger Kollege, der gut gearbeitet hat. Spezialisten sollten nicht ausgegrenzt werden (große Empörung im Saal). Die Information über das Kinderheim Borna stimmt nicht.“
Frau Lohse: „Ich bin der Meinung, dass eine solche Person unsern Kindern nicht vorgesetzt werden darf. Wie will er die Kinder zu aufrechten Menschen erziehen? Ist das neues Denken? Wer hat das entschieden?“
Frau Schmidt: „Diese Entscheidung wurde von mir, der Schule und der Gewerkschaft getroffen (entrüstetes Gemurmel im Saal).“
Herr Kölbel sagt lächelnd: „Ich habe als Gesprächsleiter große Schwierigkeiten, hier neutral zu bleiben.“
Erregter Einwurf einer Frau: „Da gibt es nichts zu lachen. Ich bin die Direktorin dieser Schule. Da kann man nicht lachen über sowas. Das ist ganz bitter ernst, wie über einen Menschen hergezogen wird, der bereit ist, umzulernen.“
Herr Kölbel: „Es ist sicher keiner hier, der den Mitarbeitern der Stasi neue Chancen verweigert. Es ist aber die Frage, an welcher Stelle diese eingeräumt werden (Beifall).
Aber hier ist ein freier Stuhl. Kommen sie her, wir können weiter darüber reden. “
Doch die Schulleiterin will nicht.
Frau Grundmann, parteilos: „Ich möchte für die Kindergärtnerinnen sprechen. Es kann doch nicht angehen, dass bestimmte Leitungsfunktionen bis zur Rente von den gleichen Leuten besetzt werden (Beifall).
Ich möchte auch auf die Funktion der Fachberater eingehen. Manche waren keine Fachberater, sondern Politberater. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das in kurzer Zeit verändert hat. Wenn weiterhin Leitungsfunktionen mit unfähigen Kadern besetzt werden, kann sich in der Volksbildung nichts ändern (Beifall). Ein Kindergartenkollektiv hat für die Montagsrunde Vorschläge eingereicht, dafür wurde es vom BGL-Vorsitzenden gerügt.“
Herr Haschke, Lehrer: „Es hat kein direktes Unterrichtsfach Marxismus-Leninismus gegeben, aber es gab kein Unterrichtsfach, in dem der Marxismus-Leninismus nicht vorkam.“
Herr Voigtländer, Ökokreis: „Die anwesenden Lehrer und die Kreisschulrätin haben die Verantwortung für das Bildungswesen der vergangenen 40 Jahre. Ich halte es für notwendig, dass sie sich selbst die Vertrauensfrage stellen (Beifall). Ich will nicht sagen, dass sie morgen oder übermorgen aufhören sollen. Ich will sagen: Machen Sie den Weg frei für neue Leute, die das Vertrauen haben (Beifall). Helfen Sie alle mit, dass die Schule auf einen guten Weg kommt und machen Sie Platz für fähige Leute. Ich schlage Frau Müller und Frau Neubert als künftige Direktoren vor.“
Pfarrer Müller, Katholische Kirche: „Nach den Beiträgen der Lehrer, die wir gehört haben, habe ich den Eindruck, dass sich das Bildungssystem des Marxismus auf die Lehrer noch verheerender ausgewirkt hat als auf die Schüler (Heiterkeit im Saal). Sie sind unfähig zum Umdenken. Ich beantrage einen Ausschuss, der sich mit unseren Oschatzer Schulen beschäftigt.“
Frau Günster, Katholische Kirche: „Gegängelte Kinder werden gegängelte Erwachsene. Das Bildungsziel bisher war doch, reibungslos funktionierende Kinder zu erziehen. Andersdenkende waren unbequem und nicht gefragt. Wie wollen wir unsere Kinder dazu erziehen, dass sie Eigenverantwortung entwickeln und Selbstbewusstsein? Sie brauchen Freiräume, um sich entwickeln zu können. Phantasie muss trainiert werden, sonst verkümmert sie. Konfliktfähig müssen unsere Kinder werden. Ich schlage daher das Fach ,Lebens- und Menschenkunde‘ vor (Beifall). Den Kindern muss eine individuelle Prägung erlaubt sein.“
Herr Hennig, NDPD: „Ich schlage vor, dass sich alle Schuldirektoren bis Schuljahresende einer geheimen Wahl unterziehen.“
Herr Liebig, Elternvertreter: „Die Kinder mussten bisher vorgefasste Meinungen nachbeten, ihre eigene Kreativität blieb dahinter zurück. Die Bildung muss grundsätzlich umgedreht werden (Beifall). Ehemalige Stasimitarbeiter dürfen nicht als Lehrer eingesetzt werden. Sie können im Produktionsprozess eingegliedert werden, dürfen aber keine Leitungsfunktionen übernehmen.“
Frau Schmidt: „Ich gebe zu, dass Fehler gemacht wurden. Freies Denken wurde nicht anerzogen. Es wurden vorgesetzte Meinungen angeboten. Unser Bildungssystem hat auch nicht dazu beigetragen, dass Leistungsbewusstsein entwickelt wurde.“
Herr Eulitz, Evangelische Kirche: „Die Schüler haben sich ihre Bildung nicht aus der Schule geholt, sondern aus Büchern vom sogenannten Klassenfeind.“
Herr Niebilsky, Direktor der EOS: „Der Umdenkungsprozess ist für Lehrer schwer, die sich bereits im vorgerückten Alter befinden. Ich bin bemüht, aus den Ereignissen zu lernen und habe für mein Kollektiv bereits eine Menge Ideen. Die Aufnahme der Schüler in die EOS soll in Zukunft nicht mehr durch Delegierung geschehen, sondern durch Bewerbung. Unsere Internatsplätze müssen allerdings reichen.“
Dr. Kupke: „Wir haben viele Zettel mit Anfragen erhalten, z.B.:
- Wie verkraften die Schüler eigentlich die Wende?“
Antwort des Schülervertreters: „Sehr gut, ich finde sie nötig. Die Lehrer haben allerdings Schwierigkeiten. Sie wissen nicht, was sie uns antworten sollen.“
- Der Behindertenverband Oschatz fragt: „Wie wird es zukünftig mit der Bildung und Ausbildung von behinderten Kindern sein?“
- „Gibt es in Oschatz Initiativen in der Schule zur Vernichtung von Militärspielzeug, wie es in Gera geschehen ist?“
- „Wie soll der Geschichtsunterricht in Zukunft gehandhabt werden? Gibt es eine Umerziehung der Geschichtslehrer?“
- „Was ist in den Oschatzer Schulen seit dem 9. November anders geworden?“
Herr Kölbel: „Um all diese Fragen aufzuarbeiten, sollte eine Initiativgruppe ‚Schule‘gegründet werden. Wie denken Sie darüber?“
Es wurde diskutiert und darüber abgestimmt: Bei einer Stimmenenthaltung waren 21 dafür. Außerdem sollte das Thema Volksbildung noch einmal auf die Tagesordnung einer Montagsrunde gesetzt werden. Dazu kam es dann aber nicht mehr.

Fortsetzung


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