Teil I, II, III, IV, V, VI, VII, VIII, IX, X, Teil XI, XII, XIII, XIV, XV, XVI, XVII, XVIII
© Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Martin Kupke
dürfen Teile aus der im Jahre 2000 erschienenen Dokumentation „Die Wende in
Oschatz“ hier wiedergegeben werden. Das Bildmaterial stammt aus dem Archiv
von Eckhard Thiem, Großböhla.
Am 4. November 89 hatten wir ein Gespräch mit Vertretern des Rates des Kreises (Herrn Küttner, Herrn Dinter, Herrn Becker), dem Oschatzer Bürgermeister, Herrn Hetmank, dem katholischen Pfarrer Müller und den Vorsitzenden der evangelischen Pfarrkonvente (Pfarrer Zehme, Pfarrer Mende, Pfarrer Tischendorf, Pfarrer Klemm) und Superintendent Dr. Kupke. Das Gespräch fand in der Elisabethkapelle statt, also im kirchlichen Raum – gegen den Widerstand der staatlichen Vertreter. Diese sagten während des Gespräches: „Wir wollen zu allem reden, sind aber nicht für alles kompetent. Auch wir haben mehr Fragen als Antworten, nehmen aber Vorschläge aus der Bevölkerung entgegen und wir wollen auch Gesprächsmöglichkeiten schaffen.“ Bisher waren von den Staatsvertretern Gespräche mit der Bevölkerung nicht gesucht worden. Jetzt aber, unter dem Druck der Ereignisse, konnten sie nicht anders, als der Forderung nach Gesprächen nachzukommen. Der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung, Herr Buschmann, lehnte es allerdings ab, in kirchlichen Räumen solche Gespräche zu führen. Die anderen Teilnehmer erklärten sich nach einigem Zögern bereit, am Montag, dem 6. November 1989, im Anschluss an das Friedensgebet, sich dem Gespräch in der Aegidienkirche zu stellen. Wir hatten dieses Gespräch bereits publiziert, ein Rückzug der staatlichen Vertreter war nun nicht mehr möglich.
Friedensgebet am 6. November 89, 18 Uhr in der Aegidienkirche
Gekommen waren ca. 4000 Leute. Die Hälfte von ihnen stand draußen, wir mussten die Kirchentüren wegen Überfüllung schließen. Bei Nieselregen hielten die Menschen einige Stunden draußen aus. Herr Busch hatte eine Lautsprecheranlage installiert, so dass in der ganzen Innenstadt gehört werden konnte, was in der Kirche gesprochen wurde.
Viele Organisationshelfer sorgten für die äußere Ordnung, das DRK war mit Sprechfunk anwesend. Die staatlichen Vertreter wurden 17.45 Uhr durch Herrn Günther Sirrenberg vom Rathaus abgeholt. Wir begannen 18 Uhr mit dem Friedensgebet, Herr Mathias Kölbel hielt die Andacht, die Gebete wurden von einer Vorbereitungsgruppe gesprochen. Dann folgte das Podiumsgespräch. Im Altarraum der Aegidienkirche wurden Tische, Stühle und Mikrofone aufgestellt. Staatliche Gäste waren: Herr Küttner, Vorsitzender des Rates des Kreises Oschatz, Herr Becker, Stellvertreter des Vorsitzenden für Inneres, Frau Schmidt, Kreisschulrätin und Mitglied des Rates, Herr Medizinalrat Dr. Wunder, Kreisarzt und Mitglied des Rates, Herr Keller, Sekretär des Rates, Herr Bajewsky, Chefredakteur der LVZ, Herr Kittel, Mitglied des Rates für Wohnungspolitik, Herr Claus, Mitglied des Rates für ÖVW, Herr Hetmank, Bürgermeister von Oschatz. Geladen, aber nicht gekommen waren: Herr Buschmann, 1. Sekretär der SED-Kreisleitung und ein Vertreter der Staatssicherheit. Die Gäste nahmen an den Tischen im Altarraum Platz. Als Moderator saß ich in der Mitte. Pfarrer Markert aus Wermsdorf saß neben mir, um mich bei der Gesprächsleitung zu unterstützen. Einleitend sagte ich: „Wir betreten heute Neuland, deshalb gibt es Unsicherheiten und Ängste. Der Zorn im Volke ist groß. Wenn er sich entlädt, wird es schlimm. Ich bitte daher um friedliche Verhaltensweisen, um Gewaltlosigkeit auf allen Ebenen. Gewaltlosigkeit ist etwas anderes als Machtlosigkeit. Die bisher Ohnmächtigen besinnen sich auf ihre Macht. Aber sie gebrauchen diese Macht gewaltlos. Ich bitte sie alle, ihr zorniges Herz in die Hand zu nehmen und dort festzuhalten. Reden Sie erst dann. Die Wahrheit muss gesagt werden, sie muss an den Tag kommen. Aber zerren Sie die Wahrheit nicht mit der Beißzange ans Licht. In Zukunft sollen Recht und Gerechtigkeit herrschen, aber ohne Gummiknüppel. Die Methoden des neuen Anfangs sind bereits wichtig. Sie bestimmen den Fortgang. Als Kirche wollen wir den Aufbruch im Lande mit unseren christlichen Normen begleiten. In den Kirchen hat die Bewegung eine Behausung gefunden, deshalb war der Verlauf bisher friedlich. Als Kirche wollen wir die Demokratisierung im Lande auch weiterhin begleiten. Dabei hoffen wir, dass solche Begriffe wie Güte und Barmherzigkeit aufhören, Fremdworte zu sein. In Zukunft sollten sie jedem Schulkind zur Selbstverständlichkeit werden.
Beim heutigen Gespräch soll sich keiner um die Sachthemen herummogeln. Es gibt auch keine Tabuthemen. Aber wir wollen so miteinander reden, dass keiner am Boden zerstört wird. Im Lande ist ohnehin schon viel zu viel kaputt. Wir wollen aufbauen – auch neue menschliche Beziehungen.“ Nach dieser Erklärung gab Herr Küttner eine Stellungnahme ab. Er sagte: „Von allen staatlichen Organen wird jetzt eine kritische Wertung des eigenen Anteils an der entstandenen krisenhaften Situation im ganzen Lande erwartet. Wir werden dafür sorgen, dass die gesellschaftliche Erneuerung herbeigeführt und dann auch nachprüfbar sein wird. Die begonnene Wende soll unumkehrbar sein. Wir werden als Rat des Kreises in Zukunft unakzeptierbare Entscheidungen übergeordneter Organe zurückweisen. Demokratischer Zentralismus muss auch von unten nach oben wirken. In Zukunft werden wir den Willen des Volkes vollziehen, da lassen wir uns von keinem mehr hereinreden. Dazu erwarten wir Ihre Gedanken und Vorschläge. Wir arbeiten gegenwärtig an einem Aktionsprogramm, das zur Lösung der gegenwärtigen Fragen und Probleme beitragen soll. Dabei suchen wir den Dialog mit allen, die für mehr Demokratie und Sozialismus eintreten. Der Volkswirtschaftsplan muss erfüllt werden, wir haben die Verantwortung für die Befriedigung der Bedürfnisse unserer Menschen.“ Nach dieser Erklärung von der staatlichen Seite bat ich die Anwesenden um ihre Gesprächsbeiträge und wies dabei auf die Themen, die besonders aktuell waren: Die politische Struktur des Landes, das neue Wahlgesetz, der Termin für Neuwahlen, die Führungsrolle der SED, das Mehrparteiensystem, das Demonstrationsrecht, die Rolle des Staates, die Schule und das Bildungswesen. Als erster Redner kam Herr Christian Sachse aus Mahlis nach vorn. Er sagte: „Ich bin Christ und gehöre zum Neuen Forum. Bisher hatte ich kein Vertrauen zum Staat. Für engagierte Christen war das Leben in der DDR hart. Nun staune ich, wie aalglatt und wendig plötzlich die Partei ist. Ganz schnell übernimmt sie Programme, die in der Illegalität entstanden sind. Am Staatshaushalt bereichern sich Leute und verdienen an der Mangelwirtschaft. Wir brauchen unabhängige Kommissionen, die Amtsmissbrauch und Korruption untersuchen.“
Herr Küttner: „Ich bitte konkret zu sagen, wer sich am Staat bereichert, damit dies untersucht wird.“ Herr Becker, SED: „Die hier gemachten Vorwürfe müssen von Herrn Sachse konkret benannt werden. Wir haben eine Kreisstaatsanwaltschaft und die Kommission für Ordnung und Sicherheit, die dies untersuchen können.“ Herr Rudolf Thiel: „Ich habe eine Anfrage: Was ist mit dem Eigentum der bisher Ausgereisten geschehen? Wie stellen sich die Verantwortlichen dazu, dass innerhalb von drei Tagen 1800 Menschen die DDR verlassen haben? Wie lange soll das noch gehen und wie soll das Vertrauen der Menschen gewonnen werden, die noch gehen wollen?“ Herr Küttner: „Das persönliche Eigentum derer, die weggehen, wird durch den sozialistischen Staat geschützt. Es wird auf Sperrkonten eingezahlt, um bei der Rückkehr des Betreffenden wieder zur Verfügung zu stehen.“ Herr Becker: „Ausreiseanträge werden jetzt unbürokratisch bearbeitet. Alle vorliegenden Anträge sind bereits bearbeitet worden. Im Zeitraum vom 1. Januar 1989 bis zum 10. Oktober 1989 haben 108 Arbeitskräfte unseren Kreis verlassen.“Zwischenruf: „Wie kann das verhindert werden?!“ Herr Becker: „Wir müssen die Rechtsstaatlichkeit nachprüfbar machen. Ich selbst bin erschüttert und verstehe die Republikflucht der Massen nicht.“ Dr. Kupke: „Der Zorn der Massen ist groß und die Vertrauensbildung ist ein langer Prozess.“ Herr Kittel: „Jeder staatliche Leiter muss seine ganze Kraft dafür einsetzen, damit das staatliche Ansehen wieder neu gewonnen werden kann. Das Land muss besonders für junge Leute attraktiver werden. Es gibt viele Politiker, die alle Anstrengungen unternehmen.“
Herr Löschke aus Mügeln: „Warum leben wir heute noch wie die Leibeigenen hinter Mauer und Stacheldraht? Gefangene arbeiten immer schlecht. Ich lehne jede Diktatur ab. Sie hat aber eins erreicht: Unsere Kirche ist wieder voll! Die wenigen Aufpasser fallen auf, zählen aber nicht.“ Olaf Hiemann, Neues Forum: „Es gibt eine parteiinterne Information, in der die Mitglieder des Neuen Forums als konterrevolutionäre Elemente bezeichnet werden, die von den Medien der BRD gesteuert werden. Sie müssten mit allen Mitteln bekämpft werden. Dazu erwarte ich eine klare Stellungnahme.“ Herr Küttner: „Der Standpunkt des Rates des Kreises ist, mit allen, die es ehrlich meinen, zusammenzuarbeiten. Ich bin bereit, mich mit Vertretern des Neuen Forums an einen Tisch zu setzen.“ Dr. Kupke: „Und was ist mit den Kampfgruppen?“ Herr Küttner: „Jeder hat seine Kompetenz. Der Rat des Kreises kann die Kampfgruppen nicht auflösen.“ Herr Becker: „Der Termin von Wahlen wird vom Staatsrat festgesetzt.“ Zwischenruf: „Was ist mit der Buschmann-Äußerung, Demonstrationen zusammenzuknüppeln?“ Herr Küttner: „Ich stelle mich hinter den Standpunkt des Superintendenten, dass jede Demonstration eine Willensäußerung ist. Sie sollte immer friedlich verlaufen, nur so erfüllt sie ihren Zweck. Von meiner Seite gibt es keine Repressalien. Im Gegenteil: Das heutige Gespräch wurde erst heute angemeldet und der Rat des Kreises hat es genehmigt. Herr Wogawa: „Viele haben sich über Nacht umgestellt. Das sind Lumpen. Verantwortliche wurden abgelöst, aber sie wurden nicht bestraft. Es können nicht einige gleicher sein als andere. Ich habe eine Anfrage an Herrn Küttner: Zu einer Sitzung am 29.9.89 beim Rat des Kreises waren Betriebsleiter geladen. Sie, Herr Küttner, haben dort gesagt: ,Wenn es sein muss, schießen wir auch nach innen.‘ Ist das so?“ Herr Küttner: „Ich habe vorhin meinen Standpunkt zu Demonstrationen geäußert. Es war schon immer so.“ Herr Martin Gey: „Wer mich kennt, weiß, dass ich Geduld habe. Der Ausdruck von Herrn Küttner war: ,Wenn es notwendig ist, mit der Waffe nach innen.‘ Diese gleiche Aussage wurde bei der Anleitung der NDPD gemacht.” Zwischenrufe: „Absetzen, absetzen!!“ Herr Küttner: „Eine solche Aussage ist nicht erfolgt.“
Herr Dirk Heinrich, Neues Forum: “Frage an Herrn Küttner: Sind Sie der Meinung, dass die am 7. Mai 89 gewählten Abgeordneten legitim sind und betrachten Sie sich selbst als legitimen Vertreter der Bevölkerung unseres Kreises?“ Herr Küttner: „Alle wissen, dass der Wahlmodus nicht vom Rat des Kreises festgelegt wird. Alle Abgeordneten haben sich in den Wohngebieten zur Diskussion gestellt, alle hatten die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Die Kandidaten wurden von den Blockparteien vorgeschlagen, 16 Kandidaten wurden abgelehnt.“ Herr Dirk Heinrich: „Ist Ihnen bekannt, wie die Wahlen im Kreis Oschatz gelaufen sind? Finden Sie die Wahlen nach dem bisherigen Muster als der Demokratie letzter Schluss?” Herr Keller: „Das Wahlgesetz hat unter den bisherigen Bedingungen seine Dienste getan. Es ist nun zwingend notwendig, das Wahlgesetz von 1976 zu überarbeiten und dazu sollten Vorschläge von den Bürgern unseres Kreises kommen.“ Herr Löschke: „Aber noch 1989!“ Herr Keller: „Wir werden diese Anregung an den Staatsrat weiterleiten. Zur Rechtmäßigkeit der Wahlen im Kreis gibt es Anfragen. Das Wahlergebnis aber ist rechtmäßig.“ Herr Heinrich: „Die SED will das Vertrauen der Bevölkerung wiedergewinnen. Hat es dieses jemals gehabt? Die Macht der SED beruhte bisher auf der Einschüchterung der Menschen, auch durch die Staatssicherheit. Daher die Forderung: Stasi abbauen! Ich biete meine Mithilfe an, in einer unabhängigen Kommission, die Vergehen der Stasi aufzudecken, damit diese nicht inzwischen die Akten vernichtet.“ Herr Wolfgang Fleck: „Wir brauchen ein Mehrparteiensystem und freie Wahlen. Die SED hat das Volk 40 Jahre lang nur veräppelt.“
Herr Christian Beck: „Am 7. Oktober dieses Jahres klingelt es 7.30 Uhr bei mir. Zwei Männer stehen vor der Tür. Sie sagen: ,Kommen Sie bitte mit zur Klärung eines Sachverhaltes.‘ Einer von beiden war Harald Hönicke von der Stasi. Mir wurde vorgeworfen, ich hätte Informationen über eine in Oschatz geplante Demonstration am 7. Oktober. Mir wurde mit zwei Jahren Gefängnis gedroht, wenn ich die Informationen nicht herausgebe. Auf dem VPKA wurde dann von mir eine Dreiseitenansicht angefertigt.“ Dr. Kupke: „Wir brauchen eine unabhängige Untersuchungskommission.“ Herr Küttner: „Ich werde dies dem Kreistag vorschlagen.“ Dr. Kupke: „Auf welche Weise erfährt die Öffentlichkeit von der Bildung dieser Kommission?“ Herr Becker: „Wir bitten um Vorschläge, damit wir diese dem Kreistag am 18. November vorlegen können.“ Dr. Kupke: „Auch die Presse sollte dies veröffentlichen.“ Herr Bajewsky, LVZ: „Das wird unverzüglich geschehen.“ Herr H.-J. Krause: „Es gibt noch keine Antwort darauf, wie die Ausreisewelle zu verhindern ist. Es müssen Maßnahmen eingeleitet werden, die vom Volk anerkannt werden. Die SED muss sich als führende Kraft zur Wahl stellen.“ Frau E. Lohse: „Unser Staat ist krank. Uns hilft nur noch eine Intensivbehandlung. Wie kann es sein, dass Schüler registriert werden, die zum Friedensgebet gehen? Privilegien sind abzuschaffen. Vor Rache möchte ich warnen. Im übrigen sollten wir hierbleiben, um neu aufzubauen.“ Frau Schmidt, Kreisschulrätin: „Ich habe nicht angeordnet, Kinder zu registrieren, die zum Friedensgebet gehen. Dinge, die die Kirche betreffen, wurden überhaupt nicht registriert.“ Frau Lohse: „Sollten Sie weiterhin Kreisschulrätin bleiben, muss ich Ihnen mein Misstrauen aussprechen!“ Dr. Kupke: „Gibt es weitere Anfragen zum Bildungswesen?“ Pfarrer Tischendorf, Sornzig: „Ich fordere die sofortige Aussetzung des Faches Staatsbürgerkunde!“
Frau Wittig, Lampertswalde: „Wie ist es möglich, dass eine Schuldirektorin Kinder vom Chor ausschliesst, die zur Christenlehre gehen und diejenigen auf eine Liste schreibt, die am Friedensgebet teilnehmen? Haben Sie überhaupt noch ein Gewissen?! Wie können Sie sich in so kurzer Zeit umdrehen? Der Kreisschulrätin spreche ich ebenfalls mein Misstrauen aus.“Frau Schmidt: „Es wurden heute alle Direktoren angewiesen, im Fach Staatsbürgerkunde mit den Schülern über aktuelle Fragen zu sprechen. Es gibt in diesem Fach ab sofort keine Zensuren mehr. Die Vorkommnisse in Lampertswalde werde ich überprüfen.“ Herr Heinrich: „Das Fach Wehrkunde sollte wegfallen. Die freiwerdenden finanziellen Mittel sollten lieber für eine Schülerzeitung zur Verfügung gestellt werden.“ Frau Schmidt: „Mit dem heutigen Tag wurde das Fach Wehrkunde abgesetzt. Den Vorschlag mit der Schülerzeitung werde ich überprüfen.“ Frau U. Zehme: „Kinder haben Angst in der Schule. Wie können Sie die Angst abbauen? Wenn in der Schule das Fach Wehrkunde abgesetzt wurde, dann bitte ich auch, im Kindergarten das Militärprogramm abzusetzen. Vormilitärische Erziehung zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Erziehungsprogramm.“ Frau Schmidt: „Spielautos der NVA, der VP und der Feuerwehr sind legitim; denn diese Dinge gehören zum Leben. Alle anderen militärischen Medien sollten in den Kindergärten aus dem Beschäftigungsbereich herausgenommen werden. Wenn in der Schule Angst entstanden ist, werden wir ernsthaft daran arbeiten, Vertrauen und Zuneigung zu schaffen.“ Es folgen Anfragen an die LVZ: Herr Löschke: „Die großen dicken Überschriften in der heutigen Zeitungsausgabe reizen zum Lachen. Wie kann man in so kurzer Zeit eine solche Kehrtwendung machen?“ Herr Dieter Streit: „Könnte in den Traueranzeigen nicht auch ein Kreuz oder ein Bibelwort erscheinen, wenn dies die Angehörigen wünschen?“ Herr Matthias Winkler: „Auf der Kreisseite könnten doch Meinungen aus der Bevölkerung abgedruckt werden. Vielleicht wäre auch eine Stadtzeitung möglich, die für alle offen ist.“ Herr Bajewsky: „Die Vorschläge wurden alle notiert. Wir werden in Zukunft darüber berichten, wie sie zu verwirklichen sind.“
Zwischenruf: „Wo sind eigentlich die Schreiber der bisherigen Leitartikel? Sind sie noch da?“ Herr Bajewsky: „Sie sind noch da. Zur Zeit erscheinen aber keine Leitartikel in der LVZ.“ Zwischenruf: „Auch Ihre Zeit ist vorbei, Herr Bajewsky! Es geht um eine gebührende Bewertung der jetzigen Ereignisse, nicht nur um Wiedergabe.“ Dr. Kupke: „Die Gesprächsrunde ist nun beendet. Vor einiger Zeit waren solche Gespräche völlig undenkbar. Ich danke allen Gesprächsteilnehmern! In Zukunft gehören solche Gespräche in die öffentlichen Räume und nicht in die Kirche. Als Kirche wollen wir nur die Geburtshelfer einer neuen Gesellschaft sein. Wenn das Kind geboren ist und laufen lernt, ziehen wir uns wieder zurück. Wir müssen dann wieder zu unseren kirchlichen Hauptaufgaben zurückkehren, für die unsere Kräfte ohnehin nicht reichen. Jetzt sind wir hier nur stellvertretend tätig. Diese Stellvertretung nehmen viele dankbar an. In Dresden sagte jemand zu einem Pfarrer: ,Sagen Sie dem lieben Gott, dass wir ihm danken‘. Für die Weiterarbeit möchte ich folgende Vorschläge machen: 1. Wir müssen es lernen, die politische Arbeit zu organisieren. Nur so ist sie effektiv. Auch in Oschatz sollten sich neue Parteien und Gruppen sammeln und dafür brauchen sie Räume. Fordern Sie bei den Stadtvätern diese Räume an! Sie können dann Ihre Programme erarbeiten und sich zur Wahl stellen. Dies muss sehr schnell geschehen. 2. In Oschatz sollte es eine Sammelstelle für Vorschläge geben, am besten eine Computerstelle. Diese braucht eine Kontrolle und Aufsicht. Kontrolle ist für den Aufbau der zukünftigen Demokratie besonders wichtig. 3. Die Forderung nach einem neuen Wahlgesetz und einem Termin für Neuwahlen muss lauter werden. Von diesen Neuwahlen ist alles andere abhängig. Erst nach einer Neubildung der Regierung, der Stadt- und Landgemeinden, können konkrete Ergebnisse für eine neue Gesellschaft erreicht werden.“ Es folgten noch Ansagen von Steffen Mitdank für den Ablauf der anschließenden Demonstration, die dann durch die Stadt führte, auch am Gebäude der Staatssicherheit vorbei. Selbstangefertigte Plakate wurden dabei getragen, in Sprechchören riefen die Massen: „Stasi in die Volkswirtschaft!“ Manche hängten Arbeitskleidung an den Zaun vor dem Stasigebäude. Viele brennende Kerzen wurden auf den Zaunsockel gestellt. Dieser Bericht über die Ereignisse am 6. November 89 klingt nüchtern. Die in der Kirche und auf der Straße herrschende Atmosphäre aber war es nicht. Die Stimmung in der Kirche war spannungsgeladen, explosiv. Immer wieder waren Zwischenrufe zu hören, wütendes Gebrüll kam auf. Als Moderator hatte ich große Mühe, bei einem sachlichen Gesprächsverlauf zu bleiben. Die Wut der Menschen war enorm groß und auch verständlich, für ein Gespräch aber war sie nicht dienlich. Deshalb meine Mahnungen zur Sachlichkeit. An diesem 6.11. wurde durch die Ereignisse in der Aegidienkirche auch in Oschatz die Wende eingeleitet. Den Menschen ging schlagartig auf, dass sich die Machtverhältnisse umgedreht hatten. Alle Macht dem Volke – das erlebte an diesem Abend das verblüffte Volk und das erlebten die erschrockenen Funktionäre, die diesen Satz oft zitiert hatten, ihn aber nie ernst nahmen, weil sie selber, mit russischer Hilfe, die Macht hatten. An diesem Abend wurde allen Teilnehmern deutlich: Von nun an wird alles anders, auch bei uns in Oschatz. Im Anschluss an das Friedensgebet fand die zweite Demonstration in Oschatz statt.
Prägten die erste Demo in Oschatz noch die
Sprechchöre „Wir sind das Volk!“ und „Stasi in den Tagebau (oder: die
Volkswirtschaft)!“, so wurden am 06.11.1989 im Demonstrationszug auch zahlreiche
Transparente mitgeführt – zum
Teil auf recht phantasie- und geistvolle Weise.
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