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Teil I, II, III, IV, V, VI, VII, VIII, IX, X, XI, XII, XIII, XIV, XV, XVI, XVII, XVIII

© Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Martin Kupke dürfen Teile aus der im Jahre 2000 erschienenen Dokumentation „Die Wende in Oschatz“ hier wiedergegeben werden. Das Bildmaterial stammt aus dem Archiv von Eckhard Thiem, Großböhla.

Bürgerforum am 29. Januar 1990, 18 Uhr im Kino
Das Kino war voller Menschen. Im Blick auf die bevorstehenden Wahlen hieß das Thema: „Parteien stellen ihre Programme vor“. Die organisatorischen Aufgaben hatte die LDPD übernommen. Ich hatte wieder die Gesprächsleitung. Mit mir am Tisch saßen: Herr Freund vom Bürgerkomitee, Herr Bönisch von der Gruppe Öffentlichkeitsarbeit und Frau Voigtländer, die mir bei der Gesprächsleitung assistieren sollte.
Einleitend sagte ich: „Damit die öffentliche Diskussion wieder möglich ist, sind wir heute hier. Durch die sich anschließende Demonstration wollen wir unserem Willen auch öffentlich Nachdruck verleihen. Dies ist nötig, da sich im Lande nichts von alleine entwickelt. Alle rufen nach schnellen Veränderungen, aber das Rufen allein reicht nicht. Wir müssen etwas dafür tun. Geistige Auseinandersetzungen sind nötig. Wir verstehen die Gespräche also nicht als sinnloses Gerede, sondern als Methode, die zu Ergebnissen führt. Ich bitte Sie, führen Sie die Gespräche fair und sachlich, weil sich die Form auch auf den Inhalt auswirkt. Hören Sie auf den anderen, weil er eventuell etwas zu sagen hat, was Sie noch nicht gewusst haben. Ich lade Sie heute abend zum Reden, Hören, Denken ein, weil wir dabei in einen Lernprozess kommen, der uns weiterbringt.





Die ersten beiden Sitzreihen sind für die Vertreter und Gruppen der Parteien reserviert, damit für sie der Weg zu den Mikrofonen nicht zu weit ist. Für alle, die in den hinteren Reihen sitzen, haben wir Handmikrofone, die einfach durchgegeben werden.
Ich werde jetzt die Themenkomplexe nennen, die angesprochen werden sollen, und ich bitte die Parteien und Gruppen, dazu Stellung zu nehmen. Damit stellen Sie sich den Wählern auch gleich vor. Ich werde dann auch das ganze Publikum um Fragen und Antworten bitten, damit sie sich in die Thematik einbringen können. Nun zu den Themen:

  1. Zum Thema ‚Wahlen‘: Sollen die Volkskammerwahlen vorgezogen werden? Wie stellen sie sich das Wahlverfahren und das neue Wahlgesetz vor?
  2. Was haben die Parteien im Blick auf die Behinderten im Programm?
  3. Welches Frauenprogramm haben die Parteien? Was ist im Blick auf die Berufstätigkeit der Frauen geplant und im Blick auf ihre politische Arbeit?
  4. Wie ist die Energiefrage in unserem Land zu lösen?
  5. Wie sind die kommunalen Fragen zu lösen?

Im Gespräch wurde dazu gesagt:
Herr Dorow, SPD: „Ich begrüße die vorgezogene Wahl, da ich der Volkskammer und der Regierung die Legitimation abspreche. Die SPD unterstützt freie, allgemeine – vor allem aber geheime Wahlen. Die offenen Fragen sollten am Runden Tisch geklärt werden.“
Herr Mehnert, LDPD: „Es sollten nur Parteien gewählt werden, keine Organisationen. Aber parteilose Bürger können als Kandidaten vorgeschlagen werden. Im übrigen bin ich für eine 3%-Klausel.“
Herr Kattner, LDPD: „Ich freue mich über die vorgezogenen Volkskammerwahlen. Gleichzeitig sollten Kommunalwahlen sein.“
Herr Becker, PDS: „Ich begrüße freie, allgemeine, gleiche und geheime Wahlen. Wir müssen es erst lernen, geheim zu wählen.“
Herr Kupfer, CDU: „Ich bin für die Wahl von Parteien, aber die 3%-Klausel ist anzuwenden. Wir sollten uns am Wahlgesetz der BRD orientieren, dieses jedoch nicht übernehmen.“
Herr Bönisch, NF: „Es sollten sich auch qualifizierte Gruppen der Wahl stellen können. Bei der Kommunalwahl schlage ich die Personenwahl vor. Diese Personen sollten sich im Wahlkreis vorstellen. Bei der Volkskammerwahl ist das Neue Forum für eine kombinierte Wahl: Parteien und Personen können gewählt werden. Der Ministerpräsident sollte direkt gewählt werden. Parteiunabhängige Bürger sollten die Wahlkontrolle ausüben. Der 3%-Klausel stimme ich auch zu.“
Herr Mehnert, LDPD: „Die Briefwahl sollte möglich sein. Sonderwahllokale sind abzulehnen. Die LDPD ist gegen das Ausländerwahlrecht und für ein Mischwahlsystem (Personen und Parteien).“
Herr Mühlberg, CDU: „Nur Parteien sollten wählbar sein.“
Herr Mehnert, LDPD: „Wir bieten parteilosen Bürgern die Mitarbeit an. Ich rufe zur liberalen Allianz auf.“
Herr Dorow, SPD: „Auch Bürgerbewegungen sollten sich der Wahl stellen können. Das Wahlsystem der BRD ist für uns zu prüfen.“
Herr Hennig, NDPD: „Nur Parteien sollten sich der Wahl stellen. Ich bin ganz konsequent gegen ein Ausländerwahlrecht.“
Herr Becker, PDS: „Die Sonderwahllokale haben sich in der Vergangenheit bewährt (Gelächter im Saal). Außerdem bin ich für das Ausländerwahlrecht, da keine Bevölkerungsgruppe ausgegrenzt werden sollte. Die PDS hat sich ehrlich bemüht, die alten Machtstrukturen zu beseitigen. Sie ist für einen freien Wahlkampf.“
Herr Voigtländer, parteilos: „Die früheren Blockparteien könnten eine gute Entwicklung nehmen. Man kann ihnen aber nicht den Vorwurf ersparen, dass sie die gleichen Parteien waren wie die SED. Bei der ersten freien Wahl bin ich daher skeptisch. Mein Vorschlag: Bei der ersten Wahl sollten auch Gruppierungen zugelassen werden, später dann nur Parteien. Wir sollten uns für das Ausländerwahlrecht entscheiden. Wahlberechtigt ist aber nur, wer schon über Jahre hier lebt.“
Dr. Kupke: „Ich stelle an alle Anwesendendie Frage, ob sich auch Gruppen wie das Neue Forum oder Bürgerinitiativen der Wahl stellen sollten?“
Pfarrer Korbel, Ablaß: „Das Neue Forum und die Bürgerinitiativen halte ich für wählbar. Wie aber ist es, wenn sich auch der Konsum, der DFD, die FDJ und andere der Wahl stellen wollen?“
Dr. Fischer: „Das Neue Forum hat Missstände aufgegriffen, es war der Auslöser dieser Entwicklung, daher sollte es zur Wahl zugelassen werden.“
Torsten Büttner, parteilos: „Das Neue Forum ist nicht mit dem DTSB oder einem Kaninchenzüchterverein gleichzusetzen. Vom Neuen Forum kam der Anstoß, deshalb unterstütze ich die Wahlzulassung.“
Dr. Kupke: „Ich schließe an dieser Stelle die Diskussion zum Thema ‚Wahl‘. Es besteht die Möglichkeit, sich nach Berlin zu wenden und Vorschläge für das Wahlgesetz einzubringen.“
Neue Anfrage: „Was wird aus dem Armeeobjekt Dresdner Straße?“
Oberstleutnant Daßler: „Das Objekt gehört dem Ministerium für Post- und Fernmeldewesen. Armeeangehörige wurden dort ausgebildet. In Zukunft könnte es als Fernmeldebauamt für das Land Sachsen genutzt werden, oder als Ausbildungsobjekt der Deutschen Post. Eine Arbeitsgruppe wird dem Minister ein Konzept vorlegen. Der Abbau der bisherigen Ausbildung wird etappenweise fortgesetzt.“ Herr Mehnert: „Als Mediziner bitte ich um die Abtrennung eines Gebäudeteils als Krankenhaus. Das jetzige Krankenhaus könnte dann Altenheim werden.“
Dr. Kupke: „Ich mache den Vorschlag, dass sich Mediziner und Bauleute das Objekt gemeinsam ansehen und über die Verwendungsmöglichkeit beraten.“
Herr Daßler hält das für möglich.
Herr Freund: „Wo sind die Uniformen und Ausrüstungen der Kampfgruppen?“
Herr Becker: „Bei der Volkspolizei.“
Dr. Kupke: „Haben wirklich alle alles abgegeben?“
Herr Kreßler, Volkspolizeikreisamt: „Uniformen konnten von Betrieben käuflich erworben werden, um sie als Arbeitsschutzbekleidung zu nutzen.“
Einwurf: „Die Uniformen wurden für 50 Mark verkauft, Stiefel und Unterwäsche wurden in Dahlen verschenkt.“
Zwischenfrage: „Wo befinden sich die Waffen? Wurden sie vernichtet?“
Rufe aus dem Saal: „Die Waffen sollen vernichtet werden!“
Herr Keßler: „Die Sicherung der Waffen erfolgte durch die VP, die Aufbewahrung in der Waffenkammer.“

Dr. Kupke: „Kommen wir zur nächsten Problematik: Welche Vorschläge haben die Parteien für die Förderung behinderter Menschen zu machen?“
Herr Mühlberg: „Mit dem Krause-Duo sind die Behinderten noch einmal behindert. Die Wirtschaft muss erstarken, damit sie in der Lage ist, etwas für die Würde der Menschen zu tun.“
Dr. Kupke: „Behinderte Menschen haben leise Stimmen. Sie brauchen andere, die ihre Stimmen verstärken.“
Herr Kattner: „Die LDPD hat sich sehr dafür eingesetzt, dass das Stasigebäude den Behinderten gegeben wird. Wir sprechen uns für eine echte Lebenshilfe aus.“
Dr. Kupke: „Bisherige Hilfen haben Behinderte als Almosen empfunden. Es geht nun um eine rechtliche Absicherung ihrer Bedürfnisse. Was wollen die Parteien dafür tun?“
Herr Bönisch: „Bisher wurden Behinderte abgegrenzt. Wir müssen sie integrieren. Durch Absenken der Bordsteinkanten, behindertengerechte Telefonzellen und Toiletten, die Errichtung von Ampelkreuzungen usw. Bei der Projektierung künftiger Bauvorhaben ist darauf zu achten.“
Herr Kunath: „Familienangehörige, die eine Pflege durchführen, müssen finanziell abgesichert sein.“
Herr Mühlberg: „Die staatliche Bauaufsicht sollte bereits bei der Prüfung der Projekte auf die Bedürfnisse der Behinderten hinweisen.“
Frau Schüttig, Vorsitzende des Behindertenverbandes: „Ich bitte meine Mitmenschen, im täglichen Leben nicht so gedankenlos und rücksichtslos zu sein. Setzen Sie sich mal in einen Rollstuhl und fahren Sie los.“
Frau Günster, Katholische Kirche: „Auch geistig behinderte Menschen haben eine Menschenwürde. Sie sind keine ,Verrückten‘. Es wäre gut, mal in das Wermsdorfer ,Wespennest‘ zu stechen.“
Dr. Kupke: „Man sagt, eine Gesellschaft sei so gut, wie sie ihre Gefangenen behandelt. In Abwandlung kann man sagen: Sie ist so gut, wie sie ihre Behinderten behandelt. Es ist erschreckend, dass noch kein kompetenter Vertreter der Stadtverordnetenversammlung daran gedacht hat, die Bordsteinkanten abzusenken.“
Herr Dorow: „Ich betrachte die Behinderten auch als Opfer der 40jährigen SEDHerrschaft. Die SPD unterstützt alles, was den Behinderten dient.“
Herr Hahn, parteilos: „Die Behinderten sind keine Bittsteller, sie haben Rechte. Ich frage ganz konkret: Kann nicht in jeder Partei ein Behinderter die Interessen der Behinderten vertreten?“
Herr Mehnert: „Ich warne aber davor, dass mit den Behinderten Wahlkampf gemacht wird.“

Damit wurde die Diskussion beendet. Zum Schluss sagte ich: „Ich hoffe, Sie werden dieses Gespräch zu Hause, in den Parteien, Betrieben und Schulen fortsetzen, damit Menschen aus ihrer Sprachlosigkeit und Unmündigkeit herausfinden. Es schließt sich nun die Demonstration an, die auf dem Markt beginnt und auf dem Markt enden wird. Zum Abschluß wird dann dort eine kleine Rede von der LDPD gehalten, die heute auch den Organisationsdienst hatte, wofür ich ihr herzlich danke! Wir sehen uns dann in zwei Wochen zum nächsten Bürgerforum hier wieder. Es wird dann um das Thema gehen: ‚Die deutsche Einheit‘. Dazu werden auch Gäste aus der Partnerstadt Blomberg hier sein. Am nächsten Montag sind wir aber zur dritten Montagsrunde in der Klosterkirche beisammen.“

Bilder von der anschließenden Demonstration


Fortsetzung


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