Teil I, II, III, IV, V, VI, VII, VIII, IX, X, XI, XII, XIII, XIV, XV, XVI, XVII, XVIII
© Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Martin Kupke
dürfen Teile aus der im Jahre 2000 erschienenen Dokumentation „Die Wende in
Oschatz“ hier wiedergegeben werden. Das Zeitungsartikel stammen aus dem Archiv
von Eckhard Thiem, Großböhla.
Friedensgebet am Montag, dem 13. November 89, 18 Uhr in der Aegidienkirche Es kamen wieder so viele, dass sie nicht in die Kirche passten. Auch die Altarstufen waren dicht besetzt. Etwa 500 Leute mussten draußen stehen und an den Lautsprechern mithören, was in der Kirche gesprochen wurde. Insgesamt waren es aber weniger Teilnehmer als in der Woche zuvor. Die Grenze zur BRD war inzwischen offen, die Leute fuhren nach dem Westen, der größte Druck war weg. Nach dem Friedensgebet folgten die Diskussionen. Redner kamen an das Rednerpult und sagten ihre Meinung oder machten ihre Vorschläge. Ich saß am Tisch im Altarraum und moderierte. Viele Menschen kamen vor. Ihre Beiträge glichen einem großen Dampfablassen, die Kirche wurde zur Klagemauer. Vom Rat des Kreises war niemand gekommen – Buhrufe! Auch von der Redaktion der LVZ war niemand erschienen. Herr Müller: „Wie sieht es mit der Offenheit und Ehrlichkeit der LVZ aus, die sie zukünftig praktizieren will, wenn sie nicht mal hier ist (lauter Beifall). Ist der Weg von der Theorie zur Praxis so weit?“ Manches von dem, was an diesem Abend vorgebracht wurde, konnte an den entsprechenden Stellen geklärt werden, weil alle Aussagen, die in der Kirche gemacht wurden, auf irgendeine Weise nach draußen gelangten. Die Oschatzer Presse informierte in Zukunft über jede Veranstaltung, wenn auch sehr verkürzt. Zu Beginn des Abends sagte ich u.a.: „Als wir vor einer Woche hier beisammen waren, ahnte keiner, dass heute die Grenze offen sein würde. Politiker und staatliche Verordnungen verfliegen bei uns z.Zt. schneller als die Wolken am Himmel. Die Grenze ist auf, das ist herrlich! Die Menschen haben auf der Berliner Mauer getanzt und ein Fest gefeiert. Wie sich die offene Grenze konkret auswirken wird, lässt sich noch nicht voraussehen. Deutlich ist nur: Der Einschnitt ist gewaltig. Wirtschaftlich wird es in unserem Lande weiter bergab gehen. Wie die Talfahrt zu stoppen ist, lässt sich nur von Wirtschafts- und Finanzexperten aus Ost und West beantworten. Allein schaffen wir es im Osten nicht. Es wird in Zukunft aber vor allemum die Frage gehen: Welche Gesellschaftsform wollen wir eigentlich? Die meisten werden mit mir einig sein, wenn ich sage: Sie sollte sozial, demokratisch, pluralistisch sein. Wie diese Gesellschaftsform in Zukunft genannt werden soll, müsste man in einem Preisausschreiben ermitteln. Das Wort Sozialismus ist zu stark belastet unddaher nicht verwendbar. Nicht verschwunden aber ist die Sehnsucht nach der Befreiung der Menschen, der Überwindung von Armut, dem Recht auf Arbeit, der Verteilung des Reichtums, die Sehnsucht nach Glück, Frieden und Freiheit, nach einem freundlichen und entspannten Zusammenleben der Menschen. Diese alten Menschheitsträume sollten in zukünftige Gesellschaftsmodelle eingehen. Sie sind jetzt zu erarbeiten. Hüten sollten wir uns vor neuen Dogmatikern, die neue Lehrsätze erfinden, die sie dann dem Volke als Zwangsjacke anziehen. Von erstrangiger Wichtigkeit ist aber die Gewaltlosigkeit in unserem Lande. Gewalt war ein Kennzeichen des Stalinismus, unter dem wir alle gelitten haben. Nun bitte nicht mehr! Ich bitte Sie mit Bedacht um Gewaltlosigkeit, weil ich weiß, dass viele mit Zorn erfüllt sind und dieser in Gewalt übergehen kann. Viele wollen sich rächen. Dieser Wunsch wird wachsen, wenn wir erfahren, was in den vergangenen Jahren in den Haftanstalten der DDR geschehen ist. Das Licht des Tages wird auch in diesen abgeschotteten Bereich vordringen und das Entsetzen des Volkes wird groß sein. Im Blick darauf bitte ich in großer Sorge um Gewaltlosigkeit. Wir stehen auf der ersten Stufe einer neuen Zeit und müssen aufpassen, dass die Treppe nicht nach unten, sondern nach oben führt. Daher ist es nötig, dass Sie in Ihren Betrieben neue Programme diskutieren und neue Leute suchen, die besser sind als die bisherigen. Diese Leute sollten ehrlich sein, zum Dienen bereit und fähig zum Regieren. Ich bitte Sie: Verhalten Sie sich nicht wie im Theater, sondern spielen Sie selber mit. Gehen Sie auf die Bühne und machen Sie Geschichte! Gute Geschichte!
Friedensgebet am 20. November 89, 18 Uhr in der Aegidienkirche Gekommen waren etwa 800 Leute, die meisten fuhren nach dem Westen, sie hatten erst einmal andere Interessen. Zwischen Friedensgebet und Diskussionsrunde sagte ich: „In Jerusalem gibt es eine große Mauer. Sie ist ein Rest des alten jüdischen Tempels, der vor 2000 Jahren zerstört wurde. Man nennt diesen Rest die Klagemauer, weil Juden aus aller Welt dort Gott ihr Leid klagen. Eine solche Klagemauer braucht jeder Mensch. Wenn wir als Kirche zum Friedensgebet eingeladen haben und zur anschließenden Diskussion, so taten wir dies, um den leidenden Menschen Gelegenheit zu geben, ihr Leid zu klagen. Die Aegidienkirche wurde so zur Klagemauer. Klagen entlastet. Verschlucktes oder unterdrücktes Leid liegt wie ein Sandsack auf der Seele. Damit Menschen entlastet werden, die unter der DDR-Diktatur gelitten haben, gaben wir hier in der Kirche Gelegenheit zum Klagen. Darüber hinaus hat das Reden noch einen weiteren Sinn: Es verändert die Gesellschaft. Auch im Kreis Oschatz ist einiges in Bewegung geraten. Das, was hier gesagt wurde, ist weitergereicht worden und es hat sich ausgewirkt. Ich erhalte Briefe und Telefonanrufe und merke daran, wie die angesprochenen Themen weiterbearbeitet werden. Ich möchte Ihnen deshalb auch heute wieder Mut zum Reden und Klagen machen.“ Folgende Klagen und Forderungen wurden daraufhin vorgetragen: Frau Käte Miene, Lampertswalde: „Wir Alten haben die Trümmer des Krieges weggeräumt und erhalten dafür 350 Mark Mindestrente. Ich fordere eine höhere Rente. Ich fordere einen Wohnblock für Rentner in der Kreisstadt mit ärztlicher Betreuung.“ Herr Kattner, LDPD: „Ich fordere: Wer sich am Volkseigentum bereichert hat, sollte nicht ungeschoren bleiben. Die SED –warum braucht sie ein so großes Haus? Wann muss sich Honecker für das rechtfertigen, was er verschuldet hat? Für die Handwerker brauchen wir eine Dachorganisation, ein einheitliches Lohnund Preisgefüge, ein überarbeitetes Steuergesetz, eine Neuregelung des Krankengeldes, eine ehrliche Rentenzahlung, eine qualitativ bessere und auch menschlichere Steuerprüfung.“ Pfarrer Korbel, Ablaß: „Wir brauchen neue Dörfer, lasst die Dörfer nicht schlafen! Lasst die Pfarrer ihre Friedensgebete auf den Dörfern nicht allein halten!“ Herr Voigtländer: „Ich möchte für den Ökokreis in Oschatz werben. Staatliche Stellen haben uns behindert, statt uns zu fördern. Die Situation ist beängstigend: Das Grundwasser hat sich verschlechtert, die Schornsteine blasen Staub und Schwefeldioxyd in die Luft, die Döllnitz ist verschmutzt. Ich fordere Umweltschutz als Fach in der Schule. Auch eine Schulreform ist dringlichst erforderlich.“ Pfarrer Hemmann, Schmannewitz: „Ich habe mich geschämt für die Ausländerfeindlichkeit, die am vergangenen Montag zu hören war. Die Tendenz ist gefährlich! Achtung!“ Herr Dirk Heinrich, NF: „Ich möchte noch einige Worte zur anschließenden Demonstration sagen: Ich habe sie auf meinen Namen angemeldet, da das Neue Forum kein Rechtsträger ist.“
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