Teil I,
II,
III,
IV,
V, VI,
VII,
VIII,
IX,
X,
XI,
XII,
XIII,
XIV,
XV,
XVI,
XVII,
XVIII
© Mit freundlicher Genehmigung von Dr. Martin Kupke dürfen Teile aus der im Jahre 2000 erschienenen Dokumentation
„Die Wende in Oschatz“ hier wiedergegeben werden. Das Bildmaterial stammt aus dem Archiv von Eckhard Thiem, Großböhla.
Versammlung im Kino
Im Dezember gab es zwei Versammlungen im Kino, die nicht von mir verantwortet und moderiert wurden. Die Versammlung am 4. Dezember 89 wurde von der
LDPD veranstaltet, geleitet von Herrn Werner Plath. Über diese Versammlung hat die LVZ damals u.a. folgendes berichtet:
„Das Kino war fast voll besetzt. Frust und Verbitterung der Bürger wurden in 30 Ge-sprächsbeiträgen zum Ausdruck gebracht. Dabei forderten die
Redner, Korruption und Machtmissbrauch schonungslos offen zu legen, die Kampfgruppen und die Stasi aufzulösen, geheime und freie Wahlen durchzuführen,
die Betriebsparteiorganisationen zu beseitigen. Die Diskussion wurde von den Wutausbrüchen der Redner begleitet. Herr Plath rief immer wieder zur
Sachlichkeit auf. Die SED stand im Kreuzfeuer der Kritik. Von den ehemaligen leitenden Funktionären Buschmann, Färber, Hurt und Fleck wurde Rechenschaft
gefordert.“
Herr Becker: „Eine Arbeitsgruppe wird Korruption und Machtmissbrauch untersuchen.“
Zuruf: „Der Staatsanwalt ist ja auch Genosse!“
Herr Becker: „Die Parteidisziplin geht nicht soweit, dass kriminelle Delikte gedeckt werden.“ (Tumult und lautstarker Protest im Saal).
Dirk Heinrich vom Neuen Forum empfahl, noch heute abend das Stasigebäude zu besichtigen. Es stellte sich aber heraus, dass dies nicht durchführbar
war, da man den Kreisstaatsanwalt nicht erreichen konnte. Es wurde aber vereinbart, dass sich Vertreter der Blockparteien am nächsten Morgen 8 Uhr vor
dem Kreisgericht treffen sollten. Eine Mahnwache stand ohnehin bereits am Stasigebäude.
Nach einem Protokoll von Pfarrer Zehme hat sich die Begehung dieses Gebäudes am nächsten Tag, dem 5.12.89 etwa so abgespielt: Herr Ullrich,
stellvertretender Leiter der Dienststelle, begrüßte die Gruppe etwa 8 Uhr am Eingang. Im Konferenzraum des Hauses versammelten sich dann alle. Der
Staatsanwalt erkundigte sich, ob Siegellack vorhanden sei. Dies war der Fall. Herr Ullrich erklärte, das Haus habe unterschiedliche Räume, die s.g.
„sensiblen“ Räume dürften nicht betreten werden.
Herr Ullrich: „Das Ministerium für Staatssicherheit befindet sich im Umbruch. Verschiedene Akten, die sich erübrigt haben, sind schon im Reißwolf
vernichtet worden.“
Anfrage: „Nach welchen Kriterien wurden bei Ihnen die Mitarbeiter ausgesucht?“
Herr Ullrich: „Die Mitarbeit war freiwillig. Von ‚Kundschaftern‘ wurden wir bei unserer Arbeit unterstützt. Wir kämpften gegen Nationalismus,
Rassismus, Sabotage.“ Anfrage: „Wie viele Mitarbeiter gab es?“ Diese Frage wurde nicht beantwortet. Weitere Anfragen galten der Zukunft der
Dienststelle und dem Verdienst der Mitarbeiter.
Herr Ullrich: „Wir haben auf der Basis von Befehl und Gehorsam gearbeitet, der Armee vergleichbar. Über die Befehle wurde nicht nachgedacht. Die
jetzige Situation aber ist für die Mitarbeiter belastend, sie sind sogar Morddrohungen ausgesetzt. Eigentlich waren wir der Meinung, wir hätten zur
Bevölkerung ein gutes Verhältnis. Jetzt werden wir beschimpft, ausgegrenzt, abgestempelt. Unsere Mitarbeiter finden keine Arbeit, in den Betrieben
werden sie nicht angenommen. Das ist psychische Gewalt, das haben wir nicht verdient.“
Anfrage: „Wie sehen Sie die politische Lage heute?“ Herr Ullrich: „Heute denken wir: Hätten wir nur auf die Kritiker gehört. Aber wir hatten
falsche Weisungen. Uns wurde gesagt: ,Das ist die Konterrevolution!‘ Da war unser Verhalten klar.“
Anfrage: „Warum sind Sie nicht zur Diskussion mit der Bevölkerung in die Kirche gekommen?“
Herr Ullrich: „Wir haben Dr. Kupke sagen lassen: Wir kommen an jeden Ort, aber nicht in die Kirche.“
Anfrage: „Waren Sie für den Schutz des Volkes da oder für den Schutz der Staatsvertreter?“ Herr Ullrich: „Wir haben Material geliefert, um
Licht ins Dunkle zu bringen.“ Anfrage: „Wie verhielt es sich mit der Überwachung der Telefone?“ Herr Ullrich: „Solche Überwachung wurde von uns
nicht vorgenommen!“
Der Staatsanwalt: „Auch ich habe so etwas nie angeordnet.“
Anfrage: „Wie groß ist die Dienststelle?“
Herr Ullrich: „Es gibt 16 Zimmer mit 3 sensiblen Räumen. In der Dienststelle arbeiten 34 Mitarbeiter, die sich nun alle um einen anderen
Arbeitsplatz bemühen müssen.“
Anfrage: „Was befindet sich in der Waffenkammer?“
Herr Ullrich: „Maschinenpistolen, Munition, Pistolen, eine Panzerbüchse, Gewehre, Optik, Schutzanzüge. Jeder Mitarbeiter hatte seine Waffe, alles
kommt jetzt nach Berlin. Der Waffenraum ist immer versiegelt.“
Das Gespräch dauerte bis 11 Uhr, dann wurden die Panzerschränke versiegelt. Die Mitarbeiter waren nun nicht mehr arbeitsfähig, was die Auflösung
der Kreisdienststelle beschleunigte.
LVZ, Mittwoch, d,6,12,1989
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